Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Anfechtungen des guten Rufs

Mit Auflagen für Neonazi-Demonstrationen weichen die Staatsinstitutionen dem Grundproblem aus

Außenminister Fischer hatte es der Berliner Polizeidirektion extra in einem Brief bestätigt: Bei einem Marsch der neofaschistischen NPD durch das Brandenburger Tor leidet die internationale Reputation der Bundesrepublik. Der Berliner Polizeipräsident seinerseits hatte extra um dieses Schreiben ersucht. Denn nachdem die Nazis nur sechs Wochen früher eben so dem Ansehen der Bundesrepublik geschadet hatten, wollte Innensenator Werthebach die Demonstration diesmal verbieten. Das Verwaltungsgericht schätzte jedoch das demokratische Recht auf freie Meinungsäußerung für wichtiger als den Leumund des Staates und genehmigte die deutschtümelnde Kundgebung unter Auflagen. In ihrer Rechtsausübung von 1500 Polizisten geschützt, stolzierten die Nazis so am 12. März ohne Fahnen und Trommeln und statt durch Kreuzberg die Leipziger Straße entlang. Durch das Brandenburger Tor kamen sie nicht, weil es verriegelt und auf der anderen Seite durch eine gutwillige, aber schmale Gegendemonstration aus vielen Parteien und Gruppen sowie 4000 der 3500000 Berlinern besetzt war. Den Auflagen war also Genüge getan und die Demokratie verteidigt.

Doch Fragen sind nötig. Ist es wirklich ein Unterschied, ob Nazis durch das Brandenburger Tor marschieren oder nebenan durch die Behrenstraße (wo übrigens die NPD-Anhänger es für angebracht hielten, die künftige Holocaust-Gedenkstätte zu verhöhnen, und die deeskalierenden Polizisten sich nicht einzumischten)? Ist es wirklich ein Unterschied, ob die Nazis ihre unmissverständliche Propaganda durch Plakate zeigen oder durch Fahnen? Ob sie ungehindert den verbotenen Staatshymnentext bezüglich Ostpreußen und Elsass-Lothringen singen oder dazu noch auf Trommeln schlagen? Das Gericht hatte die öffentliche Ordnung im Blick. Darum wollte es Massenschlägereien zwischen Nazis und Gegendemonstranten verhindern. Und es bedachte die Medienbilder - also doch die Reputation. Darum wollte es eine äußerliche Ähnlichkeit der NPD-Pilgerfahrt mit Aufmärschen früherer Hitlertruppen vermeiden. Wenn ersteres noch dazu dienen mochte, rituellen Mechanismen zwischen Links- und Rechtsradikalen entgegenzuwirken, so war das zweite eine rein kosmetische Lösung. Kein NPD-Anhänger wird dadurch demokratischer, dass er nicht durch die Langhans-Säulen schreiten darf. Kein Nazi-Aufmarsch erträglicher, wenn er an einem anderen Ort stattfindet. Diesem Irrtum unterliegt auch Werthebach, wenn er nun die Bannmeile um den Reichstag bis zum Brandenburger Tor ausweiten will, um Rechtsradikale davon fernzuhalten. Im Grunde akzeptieren er und das Gericht damit nur das Denken der Nazis: dem Marsch durch das Brandenburger Tor einen zusätzlichen Symbolwert zuzubilligen.

Dabei ging es eigentlich einmal mehr um die Frage, ob neofaschistischen Organisationen und ihrer intoleranten, rassistischen und letztlich mittelalterlichen Propaganda überhaupt eine Öffentlichkeit zugestanden werden soll. Und zwar nicht mit Rücksicht auf das sensible Ausland, sondern auf die eigene Gesellschaft, die Berliner und bundesrepublikanische. Durch den Marsch der 600 Nazis durch die Hauptstadt ist die gegenwärtige Gesellschaftsform gewiss noch nicht gefährdet. Viel mehr wäre sie es durch eine rigide Einschränkung des Demonstrationsrechts. Doch andererseits verfügen Entscheidungen des Staates, egal, wie man zu ihnen steht, über eine orientierende und erziehende Wirkung. Mit der Genehmigung faschistischer Umzüge zeigt der Staat seinen Bürgern - darunter auch den Nazis und ihren potentziellen Anhängern -, dass er die Verbreitung dieses demagogischen Gedankenmülls bis zu einem gewissen Grad zulässt und sogar schützt. Damit legitimiert er ihn, verwischt seine eigene Position und untergräbt die politische Tabuisierung der Nazis - insbesondere bei jenen Menschen, die sich im Grunde indifferent verhalten. Bei jenen, die sich vor allem auf der Seite der Starken und Privilegierten wiederfinden möchten, die so gern zur "grauen Masse" herabgemindert werden, die aber über den Ausgang von Wahlen entscheiden und deswegen so gern hofiert werden. Auch von Politikern wie Stoiber und Landow-sky, die sich antifaschistisch geben und doch mit ihrem Populismus die Barrieren niederreißen.

Die zivilisatorischen Vorzüge der Bundesrepublik sind nicht gering. Es gibt vieles zu verteidigen. Aber auch die Selbstgewissheit und Selbstsicherheit dieses Landes ist riesengroß. Die politische Elite verweist dazu vor allem auf ihr politisch angeblich so vollkommenes System. Dabei ist die Schicht, die an ihm wirklich aktiv teilnimmt, die diese Möglichkeiten schätzt, demokratisch nutzt und zu verteidigen bereit ist, viel dünner und poröser, als man gern glauben möchte. Eine größere Wirtschaftskrise kann sie schnell zerbrechen, wenn die Gesellschaft dann nicht verhindert hat, dass sich die Naziideologie als scheinbar wählbare Alternative für die unzufriedene Mehrheit aufgebaut hat. Denn die Demokratie kann sich selbst abschaffen, indem die Bürgermehrheit für eine Diktatur stimmt.

Es wäre viel zu primitiv, den heutigen Neonazismus vor allem unter Jugendlichen allein auf die Arbeits- und Perspektivlosigkeit in der Bundesrepublik zu schieben. Es irrt, wer meint, dass mit der Arbeitslosigkeit auch die rechte Szene beseitigt werden könnte.

Österreich beweist das: reich ist das Land, gutsituiert, vor allem aber überdrüssig seines Establishments, seines korrumpierten Stillstands und seiner guten Manieren. Hierzulande kommen noch jugendinterne Antriebe hinzu: Schüler und Lehrlinge versuchen, sich die Langeweile zu vertreiben, ungezogen zu sein und zu tun, was das eigene Establishment vom Lehrer bis zum Bundeskanzler als das Illegitimste, Böseste empfindet - sich als Nationalist und Neofaschist zu gebärden. Gruppenzwang und -drang helfen dabei. Viele hätten in diesem Bestreben vielleicht auch auf der anderen Seite des Brandenburger Tors landen können, wo es ebenfalls etliche "Ungezogene" gab, und umgekehrt. Ihre Losungen und ihr Verhalten schienen immer wieder austauschbar. Da verkündete eines der Naziplakate unbestimmt "Das System ist der Fehler", und in der Gegendemonstration schrieen einige Halbwüchsige, die sich links nennen, begeistert: "Hass! Hass! Hass!" oder "Lieber radikal als national". Genauer erklären das beide nicht. Auch nicht "Ausländer raus!" und "Nazis raus!" Solche Luftschläge sind schon jetzt unannehmbar. Gefährlich aber werden sie, falls sich intellektuelle, charismatische oder auch nur rücksichtslose Führer dazu hergeben, sie mit einer auch auf die Durchschnittsbürger zielenden Demagogie zu verbinden.

Deshalb geht es jetzt vor allem um geistige Kultivierung. Um Sensibilisierung. Darum, den Menschen differenziertes, aufmerksames Denken zu vermitteln und das Gefühl, in einer sozial lebenswerten, angenehmen und kulturell interessanten Gesellschaft zu leben. Um es in der Sprache der Ökonomen zu sagen: Es muss mehr Geld und vor allem mehr Feinfühligkeit und Achtung in die weichen Standortfaktoren investiert werden. Insofern haben die Schülerproteste der letzten Wochen gegen die Einsparungen an den Schulen, die Aushöhlung der Kultur- und Jugendeinrichtungen ebenso etwas zu tun mit dem Rechtsradikalismus wie die Sachdebatten um Privatrenten und Sozialhilfekürzungen einerseits und Eigenheimzulagen andererseits. Sie verstärken das Klischee von der "Wolfsgesellschaft".

Wer sich jetzt auf der "richtigen Seite" wähnt, muss wissen, dass es unabdingbar werden könnte, sich aktiv und selbstlos für die offene, ausgleichende und nicht nationalistische Gesellschaft einzusetzen. Eine solche Notwendigkeit zu verhindern, ist nicht zuerst, aber auch nicht zuletzt die Aufgabe der Gerichte und der Polizei. Sie sind als kontrollierende und durchsetzende Instanz an die gesetzgebende gebunden. Ihren Ermessensspielraum sollten sie indes gut nutzen. Denn schon jetzt kommen sie zunehmend in den Verdacht, antidemokratisch zu handeln, weil die Gesetzesbuchstaben den Neonazis soviel Bewegungsfreiheit gestatten. Besser hat keiner die missliche Position der Exekutive und Jurisdiktion gezeigt als ausgerechnet der NPD-Bundesvorsitzende Udo Voigt am 12. März. So treuherzig wie zynisch bescheinigte er den Berliner Polizisten, sie hätten an der Seite der Nazis ihre Pflicht erfüllt, "wie einige Jahrzehnte zuvor auch deutsche Soldaten ihre Pflicht erfüllt haben".


Stefan Melle

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 03 - 2000