Ausgabe 03 - 2000berliner stadtzeitung
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Gegengift zu Reich-Ranicki

Rezensionen aus 32 Jahren von Jörg Drews

Wir müssen uns auf eine Meta-Ebene begeben, denn es gilt, einen Band mit Rezensionen zu rezensieren - nicht weniger als sechs Dutzend, zu Autoren von, dem Alphabet nach, Friedrich Achleitner bis Paul Wühr. Bereits diese beiden Namen marquieren, daß es dem Rezensenten nicht um die konsensfähige, biedere Po‘tik von Martin Walser bis Zo‘ Jenny geht, wie sie in allen Feuilletons breitgetreten wird und daß er sich nicht wie die schrecklichen Simplificateurs vom "Literarischen Quartett" als PR-Handlanger der großen Verlage versteht. "Nur noch solch ´wohltemperiertes Erzählen´ (Thomas Steinfeld) von der Literatur zu fordern", lesen wir im Vorwort, "heißt Verkaufsaspekte mit Ästhetik zu verwechseln und impliziert im Grunde den Verzicht auf eine ernsthafte Ästhetik, sprich: eine Autonomie der Kunst, welche anders als vom Markt her dächte."

Jörg Drews, geboren 1938 und Professor in Bielefeld, zählt zu den ganz wenigen Germanisten, die sich überhaupt ernsthaft mit der avancierten Literatur der Nachkriegszeit befassen. Was Drews dabei aber wohltuend abgeht, ist der Dogmatismus des Vorkämpfers. Keineswegs vertritt er ein enges Konzept von "experimenteller Literatur", neugierig läßt er sich vielmehr auch auf Phänomene wie Herbert Achternbusch ein oder das "ultradoitsh" des Deutsch-Brasilianers Zé do Rock. Vorschnelle Urteile sind seine Sache nicht. Drews´ Rezensionen sind ein Muster an Differenzierung auf dem engen Raum der Zeitungsspalten (die meisten Kritiken wurden für die "Süddeutsche Zeitung" verfaßt). Autoren wie Ernst Jandl oder Walter Kempowski begleitet er über Jahre mit kritischem Interesse, mit wachem Blick für ihre Stärken und Schwächen, bereit, Urteile zu revidieren. Wenn Drews gegen die "neue Weinerlichkeit" eines Erich Fried oder die "erlesene Plattheit" Ulla Hahns zu Felde zieht, dann geschieht das nicht nur aus polemischer Lust; in einem Text über die lyrischen Primitivismen Wolf Biermanns vergißt er nicht, auf die Verdienste der DDR-Liedermacher hinzuweisen. Polemik nimmt aber nur den kleinsten Teil ein in dieser Anthologie. In erster Linie ist sie fast so etwas wie eine "alternative" Literaturgeschichte der letzten 30 Jahre, ein Gegengift zu den Reich-Ranickis. Hier sind die meisten jener Autoren vertreten, auf die man zurückkommen wird, wenn von ernsthafter literarischer Arbeit am Ende des 20. Jahrhunderts die Rede sein wird: Friederike Mayröcker, Arno Schmidt, Alexander Kluge, Gerhard Rühm, Franz-Josef Czernin, um nur noch einige zu nennen.

Leider fehlt dem Band eine aktualisierte Bibliographie. Manches Buch will man nach der Lektüre von Drews´ Rezension ausgraben, und dann wüßte man doch gerne, ob und wo es heute noch lieferbar ist.

Florian Neuner

Jörg Drews: Luftgeister und Erdenschwere. Rezensionen zur deutschen Literatur 1967-1999.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. DM 16,80

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