Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
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Die Verkehrsregeln gelten auch für Autofahrer

Die Zahl der Unfalltoten steigt weiter - Hauptunfallursache ist zu schnelles Fahren

Am Abend des 7. Februar wurden in Berlin vier Fußgänger von Autos angefahren und schwer verletzt. Einer davon starb im Krankenhaus. Laut Polizeiangaben waren ungewöhnlicherweise in allen vier Fällen die Fußgänger am Unfall selbst schuld: Alkohol und Unachtsamkeit waren die Ursachen. Dass bei zwei Unfällen der Autofahrer vom Unfallort flüchtete, fand bei der Schuldzuweisung der Polizei keine Berücksichtigung.


Um 19 Uhr betrat ein angetrunkener 49-Jähriger von der Mittelinsel aus die Fahrbahn der Müllerstraße. Er wurde von einem roten VW Golf erfasst und musste mit schweren Beinverletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Der Fahrer machte sich unerkannt aus dem Staub.

Um 19.45 Uhr überquerte ein 22-jähriger Fußgänger die Skalitzer Straße an einer roten Fußgängerampel und wurde von einem Peugeot angefahren. Der Mann wurde durch den Aufprall gegen eine weitere Fußgängerin geschleudert, die leichte Verletzungen erlitt. Der Fußgänger wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Der Autofahrer beging Unfallflucht.

Um 20.35 Uhr wollte ein betrunkener 54-Jähriger die Kottbusser Straße überqueren. Als er die Fahrbahn vom Mittelstreifen aus betrat, wurde er von einem Auto erfasst und durch den Aufprall gegen ein anderes Fahrzeug geschleudert. Er erlag den schweren Verletzungen noch in derselben Nacht.

Um 21.45 Uhr erlitt ein 47-jähriger Fußgänger lebensgefährliche Verletzungen,als er bei Rot über die Frankfurter Allee gehen wollte und von einem Auto angefahren wurde. Auch der Fahrer musste mit einem Schock ins Krankenhaus gebracht werden.

StVO Makulatur

"Es ist eigentlich völlig untypisch, dass in allen vier Fällen die Fußgänger als Verursacher gelten", sagte Michael Krenzlin vom Landesschutzpolizeiamt. "Generell raten wir allen Fußgängern, gerade in der dunklen Jahreszeit helle Kleidung zu tragen, die reflektiert. Das menschliche Auge reagiert kompliziert in der Nacht. Autofahrer haben gerade in der Großstadt mit vielen Lichtreflexen durch Schaufenster und entgegenkommende Fahrzeuge zu kämpfen." Jörg Becker vom ADAC meint: "Die Anforderungen an alle Verkehrsteilnehmer sind gestiegen. Deswegen müssen sich auch Fußgänger an die Regeln halten."

Die Verkehrsregeln gelten für alle - dagegen ist nichts zu sagen. Doch ist zumindest in den beiden Fällen, in denen die Autofahrer Unfallflucht begingen, die Vorverurteilung der Fußgänger als Alleinschuldige in Zweifel zu ziehen. Ein schuldloser Autofahrer hätte keinen Grund, sich vom Unfallort zu entfernen (davon abgesehen, dass er es in keinem Fall darf). Wer den Verkehr auf der Müllerstraße, der Skalitzer, der Kottbusser Straße und der Frankfurter Allee kennt, weiß, dass sich hier kaum ein Autofahrer an die 50-km/h-Geschwindigkeitsbegrenzung hält - außer im Stau. Wenn Lichtreflexe die Sicht behindern, muss ein Autofahrer auch langsamer als Tempo 50 fahren. "Der Fahrzeugführer darf nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht. Er hat seine Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen persönlichen Fähigkeiten (...) anzupassen", heißt es in der Straßenverkehrsordnung. Und: "Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht."

Verkehrsdarwinismus

Die Realität auf Berlins Straßen sieht anders aus. Es gilt das Recht des Stärkeren. Es wird bei "Dunkelgelb" noch zügig die Ampel überfahren und beim Abbiegen nicht auf Fußgänger und Radfahrer geachtet, die Vorfahrtsregel "rechts vor links" scheint weitgehend unbekannt und Gehwege werden wie selbstverständlich zugeparkt. Mit Rücksichtslosigkeit fährt man am besten. Wer bremst, hat verloren. Kein Wunder, wenn Fußgänger und Radfahrer gegenüber Autos oft auf ihr Recht verzichten: Dem Auto droht ein Blechschaden, der Fußgänger riskiert hingegen im wahren Sinne Kopf und Kragen. Die Airbags sind die gepolsterte Rücksichtslosigkeit der PS-Fetischisten.

Im Jahr 1999 ist in Berlin die Zahl der Verkehrstoten erstmals seit Jahrzehnten wieder gestiegen: von 85 im Jahr 1998 auf 103, davon waren 48 Fußgänger und 13 Radfahrer. Die Hauptunfallursache war zu schnelles Fahren. In einer Bilanz der Polizei heißt es, bei Unfällen mit Toten und Schwerverletzten war zu hohes Tempo "fast immer zumindest eine zusätzliche Ursache." Wobei die Statistik noch geschönt ist: Wer nach 30 Tagen erst an den Folgen eines Verkehrsunfalls stirbt, taucht darin nicht mehr auf. Je besser also die Medizin, desto sicherer wird der Straßenverkehr.
Jens Sethmann

Foto: Caroline Eisbrich

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