Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
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Pioniere im freien Flug

Das RAW-Gelände in Friedrichshain

Seit eineinhalb Jahren existiert der Verein "RAW-Tempel", der eine Zwischennutzung des RAW-Geländes (die Abkürzung für "Reichsbahnausbesserungswerk") in Friedrichshain umsetzt. Nicht das ganze, nahezu hunderttausend Quadratmeter große Areal zwischen den S-Bahn-Stationen Warschauer Straße und Ostkreuz ist darin zur Zeit mit einbezogen, sondern vier Gebäude längs der Revaler Straße sind unter Vertrag, in denen früher Dienstwohnungen, Verwaltung, Arzt und Lager der Reichsbahn untergebracht waren.

Deswegen sind auch sämtliche Durchgänge zum großen Rest der Fläche mit gelben Gittern versperrt. Ein Tribut an die Sicherheitsauflagen, damit niemand auf dem ansonsten ungesicherten Terrain zu Schaden kommt. Ein Wachschutz der Deutschen Bahn kontrolliert denn auch, dass sich kein Spaziergänger in die verbotene Zone verirrt.

Carola Ludwig aber, eine der Mitinitiatorin des Nutzungskonzeptes, hat immer das gesamte Gelände im Auge. Was auch wortwörtlich zu nehmen ist: Aus ihrer Wohnung in unmittelbarer Nähe hat man einen Ausblick auf die zehn Hektar mit den riesigen Reparaturhallen. Irgendwann in den neunziger Jahren ließ die Deutsche Bahn die Hallen leerstehen, (heute ist nur noch eine einzige Halle mit einer Waschanlage für ICE-Züge in Betrieb), Stillstand kehrte auf dem Gelände ein, ebenso Verfall. Offenbar schien kein Investor in den Startlöchern zu stehen, kein Kapital auf dem Sprung zu sein; die üblichen Entwicklungsszenarien nahmen gerade eine Auszeit. Ideale Voraussetzungen, an alles Mögliche zu denken. Oder Unmögliche. Eine Frage der Perspektive.

Akzeptanz des Vorhandenen

Inzwischen hat der Verein in den vier Gebäuden vor allem Kultur- und Kunstinitiativen angesiedelt. Die Miethöhe bewegt sich auf Selbstkostenniveau, da der Bezirk Friedrichshain, dessen Untermieter man ist, ebenfalls keine Profiterwartungen hat. Der Vertrag beläuft sich zunächst auf drei Jahre mit der Option auf Verlängerung. Da der Bedarf an preiswerten Räumen bekanntlich groß ist, übersteigen die Mietnachfragen schon längst die Kapazitäten in den vier Gebäuden. Und der erste Winter hat ein paar der bei solchen Stadtbrachen auch immer mitlaufenden Abenteuerromantiker merklich abgekühlt. Die meisten jedoch begegnen der fehlenden Infrastruktur vor allem mit Pragamatismus: Ein neues Stromkabel musste verlegt werden, das jetzt die dauerhafte Stromversorgung sichert. Die Phase des Benzingenerators ist abgelöst. Und gebadet wird bei Freunden.

Sieg des unorthodoxen Anspruchs?

Für die kommenden wärmeren Monate plant der Verein auch die Hallen, die nicht zu den vermieteten Objekten gehören, für kulturelle Veranstaltungen zugänglich zu machen. Bibiena Houwer, ein weitere Projektinitiatorin, hat schon das Grand Theater Groningen an der Hand und die Akademie der Künste hat auch ihr Interesse bekundet, im Rahmen des "Neuen Berlins" "Postionen junger Kunst und Kultur" in einer Ausstellung zu zeigen. Zur Zeit sind die Vorbereitungen noch in dem vagen Zustand des "Angefragt-Seins". Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist es dann auch nicht mehr so befremdend, wenn der Fernsehsender N-TV kürzlich von den RAW-Leuten wissen wollte, ob "Friedrichshain nun boomt oder nicht?" Die ersten Schritte auf dem Weg dorthin sind zumindest gemacht.

Die erfolgreiche Umsetzung eines zunächst waghalsigen und absurd erscheinenden Wunsches, das RAW-Gelände ohne große Finanzkraft für lokale Initiativen "von unten" zu entwickeln, erscheint auf den ersten Blick wie ein erfreulicher, vielleicht zukunftsweisender Sieg unorthodoxen Einfallsreichtums. Bei genauerer Betrachtung ist es zunächst eher ein temporärer Zustand, bei dem die jeweiligen Interessen der Beteiligten vorübergehend ausgeglichen sind.

Kleine Stadt in der Stadt

Im Hintergrund wird das Wohl und Wehe des RAW-Geländes weiterhin von Kapitalinteressen bestimmt bleiben. Der Bezirk Friedrichshain hat lediglich eine zwischengeschaltete Funktion in der Weitervermietung, aber ein Interesse daran, dass diese innerstädtische Fläche als Brache nicht über Jahre hinweg vor sich hinrottet. Der eigentliche Verwalter des Geländes ist die Eisenbahnimmobilien Management GmbH, da die Bahnanlagen nicht mehr dem Fahrbetrieb dienen. Deren Aufgabe ist die Projektentwicklung, also Nutzungskonzepte für Objekte wie das RAW zu finden, um diese dann zu verkaufen. Mit der kaufmännischen Abwicklung ist eine Tochter der Allianz, die Allianz Grundstücks GmbH betraut. Diese verspricht sich lediglich "einen Imagegewinn" und betrachtet diese Vermietung "als eine Investition in die Zukunft". Damit liegt sie sogar im Trend der Denkmalpflege (die vier vermieteten Gebäude und die Mauer längs der Revaler Straße stehe unter Denkmalschutz), die Kulturprojekte als Pfadfinder ansieht, die neue "locations" erschließt. Der RAW-Tempel Verein selbst begnügt sich von vornherein mit einer befristeten Existenz. Sollte der Großinvestor auf der Matte stehen, will man klaglos das Feld räumen. Allerdings sieht das vorerst nicht so aus, zumal sich herausgestellt hat, dass eine Verwertung durch die vorhandenen Bunkeranlagen komplizierter und teurer als erwartet wird.

Also wird der RAW-Verein weiter an seiner "kleinen Stadt in der Stadt" bauen, so Bibiena Houwer. Damit das "Paralleluniversum in der Pionierphase", so der Zusatz, den man seinem Vereinsnamen angehängt, vielleicht doch noch andocken kann in der Berliner Realexistenz.
sas

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