Ausgabe 02 - 2000berliner stadtzeitung
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Anders Reisen

Die FAZ führt auf ihren "Berliner Seiten" durch das "neue Berlin"

Was hat sich eigentlich verändert in der Stadt seit die Bundesregierung hier ihre Arbeit aufgenommen hat? Hat sich überhaupt etwas verändert? Oder bleibt Berlin am Ende doch Berlin, wenn schon nicht am Potsdamer Platz, dann zumindest in Moabit und Weißensee? Diese Fragen mögen sich viele Berliner gestellt haben in den letzten Monaten, und es mag schlichte Paranoia sein, wenn ich mir einbilde, in meinem Kiez seien die Anstrengungen, auch noch das letzte Haus luxuszusanieren noch einmal verstärkt worden. Jedenfalls ist mit der Regierung die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach Berlin gekommen und bringt seit dem Herbst einen neuen Regionalteil heraus.

Schon zögere ich, die "Berliner Seiten" überhaupt einen Regionalteil zu nennen. Ihnen geht so gut wie alles ab, was einen Regionalteil gemeinhin ausmacht. Eine fundierte Auseinandersetzung mit der Berliner Politik, Nachrichten aus den Bezirken - all das wird man vergeblich suchen. Die grundsolide Lokalberichterstattung ihrer "Rhein-Main-Zeitung" haben sich die Frankfurter nicht zum Vorbild genommen. Auf der ersten Seite der neuen Berin-Beilage lesen wir vielmehr Theaterkritiken oder Veranstaltungshinweise. Die "Berliner Seiten" changieren zwischen Feuilleton, Stadtmagazin - und Reiseliteratur, wobei man natürlich nicht an x-beliebige Reiseliteratur denken darf, sondern beispielsweise an Merian-Hefte oder die im Rowohlt Verlag erscheinende Reihe "Anders reisen". Wenn Annett Gröschner ausführlich Fahrten mit Berliner Buslinien beschreibt, wenn Metzgereien und Restaurants vorgestellt werden, dann wird klar, daß dieser Regionalteil nicht für Berliner, sondern für Neu-Berliner produziert wird. So wie die "anderen" Reiseführer wenden sich auch die "Berliner Seiten" an eine Klientel, die an das Reiseziel, bzw. den neuen (Zweit)wohnsitz zwar erst herangeführt werden muß, keineswegs aber als der tumbe Tourist oder blutige Anfänger dastehen will. Es geht also um die Vermittlung von Insiderwissen. So brachten die "Berliner Seiten" gleich zu Beginn eine Serie über die "angesagten" Clubs der Stadt. Im Dezember wurde Nachhilfeunterricht in Berliner Geschichte des 20. Jahrhunderts gegeben, laufend werden Institutionen und Persönlichkeiten der Stadt vorgestellt. Anläßlich der Berlinale-Eröffnung wurden ausführlich die Wege von den S- und U-Bahnhöfen zu den Kinos erklärt, nebst Warnungen, wo man Gefahr läuft, sich seine Schuhe schmutzig zu machen.

Der solide Kern der "Berliner Seiten" aber sind die im engeren Sinne feuilletonistischen Artikel: Konzert- und Theaterkritiken, Berichte aus dem literarischen Leben. Dazu hat man Schreiber bei verschiedenen Zeitungen abgeworben, Jürgen Otten etwa oder Jörg Magenau, um längerdienende FAZ-Feuilletonisten mit Schwerpunkt Berlin wie Mark Siemons oder Eleonore Büning zu unterstützen. So liest man von vielen Veranstaltungen, die für das überregionale Feuilleton nicht relevant genug sind, Dopplungen freilich nicht ausgeschlossen. Eine gute Erfindung ist sicherlich die Rubrik "aus russischen" bzw. "türkischen Zeitungen". Wer wüßte sonst schon zu sagen, welche Debatten dort gerade im Gange sind?

Versucht man sich aber zu vergegenwärtigen, was vielleicht das Neue an diesem merkwürdigen Berlin-Feuilleton ist, dann verdient die tägliche Kolumne "WebCam" Beachtung. Unter dem modischen Etikett verbergen sich Momentaufnahmen aus dem Großstadtleben: eine Kundin, die mit Falschgeld in einem Kreuzberger Supermarkt erwischt wird, private Wachdienste auf einem Bahnhof, ein Imbiß in Neukölln, kurz: das bunte Metropolenleben, und das mit so viel Lokalkolorit wie möglich. Der Blick auf die Stadt ist ein ästhetischer. Berlin als "Event", als spannende Unterhaltung. Die gut dazu passende, freilich etwas doofe Idee, für die Titelseite Photos nachmalen zu lassen, um sie dort (schwarz-weiß) abzubilden, scheint man schon wieder aufgegeben zu haben.

Das heißt freilich nicht, daß die Berliner FAZ-Leute gänzlich desinteressiert wären an politischer Einflußnahme. Am beliebtesten sind, wenn wundert`s, kulturpolitische Themen. So versuchte man etwa einen Kultursenator Wolf Lepenies herbeizuschreiben - dem armen Mann ist dieser Job erspart geblieben -, bringt eine nicht endenwollende Debattenserie zum Religions- bzw. Ethikunterricht, läßt Julius H. Schoeps in einem Interview auf der Titelseite Stimmung gegen den Vorstand der Jüdischen Gemeinde machen oder polemisiert gegen Hans Haackes Reichstags-Projekt. Ein bißchen schielt man auch auf taz-Leser, läßt etwa Schlingensief von seiner blödsinnigen "Deutschlandsuche" berichten oder widmet sich der Trash-Kultur.

Ja, und dann versucht ein "Professor Rott" in einer Klatschkolumne der distinguierten Art, eine "Berliner Gesellschaft" herbeizuschreiben. Immer leicht von oben herab lesen wir von Berlinale-Empfängen oder illustren Kreisen im Wissenschaftskolleg, von den Leuten, die jetzt nach Berlin kommen und vorhaben, die "Gesellschaft" darzustellen. Dazu passend gibt es ein tägliches Personenregister.
Florian Neuner

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