Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Gefangen im Früher
Der neue Film von Atom Egoyan

Die Kamera gleitet durch einen wohlgestalteten, bürgerlichen Raum. Fünfziger Jahre Stil. Fotos von einer schönen Frau, einem dicklichen Kind. Dazu erklingt eine alte Schnulze, die davon erzählt, wie schön doch die Welt mit den Augen eines Kindes ist. Und dann befinden wir uns in der gut ausgestatten Küche, in der ein leicht beleibter älterer Herr nach den Anweisungen einer Fernsehköchin mit stark französischem Akzent sein Abendessen zubereitet.

Dazwischen wird ein junges Mädchen auf einem Schiff gezeigt, gleich darauf der betriebsame ältere Herr an seinem Arbeitsplatz, einer Kantine. Das Mädchen Felicia ist aus Irland nach Birmingham gekommen um ihren Geliebten Johnny zu suchen, von dem sie ein Kind erwartet. Sie reist nur mit einem Rucksack und ein wenig Geld. Sie weiß nur, daß Johnny, irgendwo in der Nähe von Birmingham arbeitet. Seine Adresse hat sie nicht. Auf der Suche nach der Fabrik begegnet sie Hilditch, dem älteren Herrn. Und dann noch zweimal. Das zweite Mal wird das Leben der beiden ändern.

Mit Hilfe von assoziativen Rückblenden erzählt Regisseur Atom Egoyan die Vorgeschichte der Figuren. Sie setzen anscheinend unmotiviert ein, so wie man selbst plötztlich an etwas denkt. Das Puzzle beider Leben kommt Stück für Stück zusammen, allmählich erkennt man, daß dieser harmlose Herr, der sich so treusorgend um das verlorene Mädchen kümmert, gar nicht der ist, der er scheint. Felicia hingegen stammt aus einer längst versunkenen Welt. Auf hochhackigen Schuhen und in Kleinmädchenröcken, glaubt sie naiv alles, was ihr erzählt wird. Selbst als Hilditch ihr Geld wegnimmt, damit sie wiederkommt, forscht sie nicht nach. Allmählich zeigt sich Hilditch als ein Monster, das sich als verlorene Seele sieht, ohne Liebe aufgewachsen, immer allein, die schöne Fernsehköchin war seine Mutter. Manchmal glaubt er, eine andere "verlorene Seele" gefunden zu haben, die er um jeden Preis bei sich behalten möchte. Er liest die Mädchen auf der Straße auf, dabei filmt er sie und die Geschichten, die sie ihm im Auto erzählen. Was genau er mit ihnen macht, wird nicht gesagt. Nur bei Felicia, die er auch zu sich nehmen will, gibt es ein Problem: ihre Schwangerschaft. Die muß erst aus der Welt geschafft werden, er bezahlt die Abtreibung, denkt sich eine kranke Frau aus, die er besuchen muß und die er sterben läßt, als das Mädchen zu ihm ins Haus kommt. Aus zweiter Hand kauft er schnell noch ein paar Frauenkleider, um keinen Verdacht zu erregen. Und als er endlich am Ziel seiner Wünsche ist, kommt etwas dazwischen, aus dem beide verändert hervorgehen. Und er läßt Felicia laufen.

Felicia und Hilditch gehören beide nicht in die heutige Welt. Das Mädchen wandert in Gedanken immer zu ihrer irischen Kleinstadt zurück, den grünen Wiesen. Hilditch ist in den Jahren seiner Kindheit, den Fünfzigern gefangen und im Andenken an seine Mutter, vielmehr in den Traumata, die sie ihm zugefügt hat. Daß die Figuren nicht ausgestellt oder unfreiwillig komisch wirken, verdankt der Film den beiden Hauptdarstellern Elaine Cassidy und Bob Hoskins. Sie gestalten ihre Figuren so glaubhaft, daß sie noch lange im Gedächtnis bleiben.
Ingrid Beerbaum

Felicia, mein Engel
R: Atom Egoyan
D: Elaine Cassidy, Bob Hoskins, Peter McDonald
Kinostart: 3. Februar

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