Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
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Reggae im Schädel
Felix Mennens Romandebüt "Du lebst ganz und gar über mir"

Musik-vernarrte Twens, die nicht gern mit ihren Müttern telefonieren, kennen das. Ausgeflippte Jurastudentinnen und Zivildienstleistende, die das Zeug zum Studieren, aber irgendwie keinen Bock darauf haben und schon mal neben die Kloschüssel kotzen, weil sie das mit den Drogen nicht so gut auf die Reihe kriegen, kennen das auch: Um den ganzen Scheiß irgendwie aushalten zu können, wird erstmal die Musik aufgedreht und eine Tüte gebaut. Und wenn gerade nichts zum Rauchen da ist, wird eben drauflos gesoffen. Und dann geht«s zur Sache: Ein paar softe Gedanken über den Sinn des Studiums, die nächste Hausarbeit, dann über die Freundin und den Sex mit ihr, dazwischen immer wieder ein cooles "Au, Mann", bis irgendwann der Reggae im Schädel so laut pocht, daß er einen nicht mehr losläßt und der Beat auf den Eingeweiden rumtrampelt und dabei den rastlosen Geist zermürbt.

So ist es also bei Tobias, Torsten und Nana, und fast bis zum Ende des zweiten Buchdrittels kann man sich darüber wundern, wie sich aus dieser psychedelisch-klebrigen Masse bereits 150 Seiten machen ließen. Aber nicht nur das: Ohne Überzeugungskraft reitet auch die Geschichte um die Zwillingsbrüder Tobias und Torsten an uns vorbei. Die beiden 21-jährigen Hobbymusiker leben in einer gemeinsamen Wohnung. Torsten ist ein Draufgänger, Tobias, der Ich-Erzähler, ist zurückhaltend und friedlich. Und er hat ein gestörtes Verhältnis zu seinem Bruder - die insgesamt 240 Seiten wollen uns nicht verraten, warum. Irgendwas liegt zwischen den beiden, taucht aber im Buch nicht auf und nimmt damit dem wichtigsten Handlungsstrang, dem zwischen Tobias und Torsten, den Sinn. Und dann auch hier wieder der krampfhafte Versuch, in die durch und durch unpolitische Handlung das Thema "Maueröffnung" zu integrieren, was in dieser Love Story zum Scheitern verurteilt sein muß.

Im letzten Drittel des Buches endlich eine Wende, die Hochzeit von Nanas Schwester holt uns heraus aus der Studentenkifferwelt und demaskiert die drei Protagonisten ebenso wie die betuchte Akademikerwelt: Auch die "Erwachsenen" wissen nicht, wo«s langgeht, und greifen zu Wein und Joint. Nana, die ausgeflippte Jurastudentin, entlarvt mit ihrer Reaktion auf die herumkotzende Freundin des Vaters ihre Coolness und ihr Anderssein als Irrtum. Und Tobias« Verachtung der Pflaumenmousse auf Joghurteis und des "albernen" Weins setzt zumindest den (leider oft im Ernst publizierten) Eßgewohnheiten der plötzlich an allen Tischen speisenden Popliteraten etwas entgegen.

Aber sonst? Würde der Faden-Verlag seiner EDITION OST nicht diese unwiderstehlichen Cover mit möchtegern-naiven Kinderkritzeleien auf pastos-impressionistischem Grund verpassen und offen sein für ein zeitgemäßes Layout - dieses Debüt des 28-jährigen Mennen könnte getrost Platz nehmen neben seinen großen und kleinen Brüdern und Schwestern, die sich ebenfalls nicht aus ihrer verdrogten und egozentrischen Vernebelung der Alltagsinterpretation herauswagen. Nur: Die Drogen müßten noch etwas teurer sein und die Musik nicht ganz so laut.
Claudia Gabler

Felix Mennen: Du lebst ganz und gar über mir. Faden-Verlag, Berlin 1999. DM 19.80

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