Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
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Paul Celan spricht!

Die literaturWERKstatt stellt Gedichte ins Netz

Welche neuen Dimensionen das Internet für die Literatur möglicherweise eröffnet, wird derzeit eifrig diskutiert. Bislang fehlen überzeugende Antworten, und man kann sich auch die Frage stellen, warum ein neuer Distributionsweg überhaupt gravierende ästhetische Konsequenzen haben sollte. Die von der literaturWERKstatt in Zusammenarbeit u. a. mit den Goethe-Instituten, dem Hörverlag und der Basler Literaturzeitschrift "Zwischen den Zeilen" initiierte Internet-Plattform für Lyrik gibt darauf jedenfalls keine Antworten. Das neue Medium wird bloß dazu genutzt, Gedichte unters surfende Volk zu bringen. Gedichte, die man nicht nur lesen, sondern auch vom Autor vorgelesen bekommen kann. Denn Thomas Wohlfahrt, der Leiter der literaturWERKstatt, ist davon überzeugt, daß Gedichte als Notationen zu begreifen sind, die es gilt, zum Klingen zu bringen.

Texte, die auf die mediale Versuchsanordnung im Netz reagieren würden, sucht man unter der Adresse http://www.lyrikline.org vergeblich. Die Berliner Lyrikerin Elke Erb hat für die "Startedition" vielmehr eine gediegene Anthologie zusammengestellt, die kein Risiko eingeht und auch keine Überraschungen birgt. Erb setzt auf Bewährtes, auf große Namen. Was nicht heißen soll, daß es keine Freude macht, Friederike Mayröcker oder H. C. Artmann, Thomas Kling und Peter Rühmkorf im Netz zu begegnen, mitten in dieser großen Werbeveranstaltung, diesem ganzen Müll.

Neben Erbs Anthologie findet man historische Tondokumente, die Stimme Paul Celans etwa, visuelle Texte von Eugen Gomringer und Gedichte für Kinder von dem bemerkenswerten Schweizer Lyriker Hans Manz. Dazu gibt es biobibliographische Informationshäppchen und natürlich Links. All das soll ständig ausgebaut und internationalisiert werden. Das ist sicher hübsch, rechtfertigt aber nicht ganz den Theaterdonner, mit dem das Projekt im November inauguriert wurde. Überhaupt fragt man sich, ob es so gut sein kann, wenn die literaturWERKstatt, die in den letzten Jahren unter Berlins Literaturhäusern zweifellos das beste Programm gemacht hat, ihre Energien zunehmend in das Lancieren von "Events" fließen läßt.
Florian Neuner

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