Ausgabe 11 - 1999berliner stadtzeitung
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Die großen Brüder lieben dich

Genormtes Wohlbefinden oder Wie sicher ist die Zukunft?

Gattaca, Matrix, Truman Show, Staatsfeind Nr.1 oder auch 23 - innerhalb eines Jahres sind mehrere Filme vor dem Hintergrund von Gen- und Überwachungstechnologie in die Kinos gekommen. Insgesamt entwerfen diese Filme ein paranoides und verschwörungtheoretisches Weltbild. Technik ist allgegenwärtig und hat die reale Welt durch virtuelle Simulation ersetzt.

Ihre beunruhigende Kraft gewinnen diese Visionen durch ihre konkreten Verknüpfungen an aktuelle Entwicklungen. Die Grenze zwischen Kinosaal und Realität scheint immer undeutlicher zu werden. Wie schon in den dreißiger Jahren die Antiutopie von Aldous Huxleys Schöne neue Welt oder Ende der vierziger George Orwells 1984 den Stoff für Szenarien der zukünftigen Gesellschaft lieferten, trifft dies auch auf die Visionen der Neunziger zu.

Der Mythos vom Heilsbringer

Gen- und Überwachungstechnologien verfolgen das Projekt des kartografierten Menschen, der in Raster, in gute und unerwünschte Eigenschaften eingeteilt wird.
Dabei steht nicht mehr, wie in dem antiutopischen Entwurf von Huxley oder bei den Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten die Rasse im Mittelpunkt eines Staatsinteresses, sondern der je Einzelne rückt in das Zentrum diverser Unternehmen aus dem Pharmazie- und Medizinbereich. Die heutigen Humangenetiker setzen auf freiwillige Mitarbeit der Bevölkerung. Die überraschende Akzeptanz dieser neuen Technologie nährt sich beispielsweise aus dem (nachvollziehbaren) Wunsch nach gesunden Kindern. Gentechnologie soll die Garantie für schöne und gesunde Kinder liefern. Dahinter verbirgt sich die Wahnvorstellung, Leben planbar, vorausschaubar und sicher machen zu können. In seinem Buch Die Tyrannei der Gene verweist Werner Bartens auf Umfragen, in denen 16 Prozent der Befragten erklärten, dass sie abtreiben würden, wenn man bei ihrem Kind ein Gen für rote Haare entdeckte, und 14 Prozent würden abtreiben, wenn man das "Schwulen-Gen" nachweisen könnte. Noch sind Gentests nach Aussehen verboten und ein Schwulen-Gen gibt es schlichtweg nicht. Trotzdem wird die DNA-Doppelhelix mehr und mehr als Schlüssel zu allen Menschheitsfragen verkauft: Charakter, Aussehen, Intelligenz - alles eine Frage des Zuchtverfahrens. Aber wie an der Krebsforschung oder auch bei der pränatalen Diagnostik immer deutlicher wird, bleiben die Voraussagen trotz immer höherem Forschungseinsatz extrem ungenau. So lassen sich beispielsweise bei Brustkrebs nur fünf Prozent der Fälle auf Genmutationen zurückführen und selbst dabei spielen noch diverse andere Faktoren eine große Rolle. Monokausale Ursache-Folge-Schemata, die auf der Vorstellung einer Mensch-Genmaschine beruhen, erweisen sich als ein (medizinisches) Wunschbild. Trotzdem wird Gentechnologie quasi pseudoreligiös als neuer Heilsbringer vermarktet. Es scheint so, dass in einer immer komplexer werdenden Welt die einfachen Erklärungen wieder gefragt sind.

Sicherheit durch Überwachungstechnologie

Ähnliches entwickelt sich im Bereich von Überwachungstechnik. Beruhte die bedrohliche Vision des Orwellschen Systems auf Zwang, ist das Verlangen nach Sicherheit inzwischen so groß, daß HighTech-Überwachung in Form von Kameras im öffentlichen Raum bereitwillig hingenommen werden - mehr noch - immer stärker eingefordert wird. Die Angst vor Missbrauch steht hinter der Sehnsucht nach Sicherheit zurück. Aus dem öffentlichem Raum wird ein panoptischer Raum ohne Grenzen: Wer wen wann beobachtet, ist kaum noch nachzuvollziehen. Von den Kameras privater Sicherheitsdienste in Einkaufspassagen, Bahnhöfen und an Bankautomaten bis hin zu den Kameras auf öffentlichen Plätzen und denen der Verkehrskontrolle - immer größere Flächen der Städte werden mit Videotechnik überwacht. Die Erfassung erfolgt nicht mehr nur von staatlicher Seite, private Sicherheitsdienste leisten dem einen "großen Bruder" längst Gesellschaft. Und auch hier bedient Hochtechnologie die Wunschvorstellung nach einer sicheren und schönen Zukunft. Anstelle der Bekämpfung von Ursachen, wird ein "freundliches" Überwachungssystem mit gewohnter Argumentation installiert: Wer sich an die Regeln hält, hat nichts zu befürchten. Dass damit aber ein demokratisches Grundprinzip ausgehebelt wird, nämlich sich unbeobachtet und frei bewegen zu können, stört (noch) nicht.

Vernetztes Datensammeln

Neben dieser sichtbaren Kontrolle, existiert aber ein wesentlich komplexeres Netz der digitalen Überwachung. Von jedem Menschen gibt es inzwischen eine Vielzahl virtueller "Ichs". Diese existieren in Form von Daten in den unterschiedlichsten Dateien: Vom Einwohnermeldeamt, über Bank, Finanzamt und Krankenkasse, bis zu diversen privaten Datenbanken. Diese Infodienste sammeln ihre Informationen aus Einträgen in Telefonbüchern, Teilnahmen an Preisausschreiben, Mailinglisten, der Auswertung von Cookies im Internet, der Inanspruchnahme von Dienstleistungen jeglicher Art usw. usf. Menschen bestehen in diesen Systemen aus Daten und Infopaketen, verwaltet von Datendealern und Infomaklern. Wer auf diese Daten zugreift, wie sie verlinkt sind und wie weit sie ein Eigenleben führen, ist dabei kaum noch zu überschauen.

Gegen Systeme, die nicht auf Repression beruhen, die vermeintlich Sicherheit und Komfort bieten, ist es schwierig zu argumentieren. Datenschützer werden zunehmend als bürokratische Fortschrittsverhinderer diffamiert. Unangenehm wird es nur, wenn ein Verwaltungsfehler auftritt, oder ein Regelverstoß auftritt, der unter Umständen eine Vielzahl, nicht mehr rückgängig zu machende Entscheidungen nach sich zieht. Wenn das virtuelle Ich die Kontrolle übernimmt, und aus den Dateien heraus Entscheidungen veranlasst, beispielweise die Aufnahme in eine Krankenversicherung verhindert, weil eine HIV-Infektion vermerkt ist, oder ein Arbeitsverhältnis verhindert, weil in irgendeinem Infosystem, ein Drogendelikt oder ein Ladendiebstahl aufgelistet ist: Dann wird aus dem stillen Helferlein gleichsam ein allumfassendes repressives System.
Marcus Peter

-Werner Bartens, Die Tyrannei der Gene, Blessing Verlag, 38 DM
-Reg Whitaker, Das Ende der Privatheit, Kunstmann Verlag, 39,80 DM
-Internet: http://autos.cs.tu-berlin.de/fb13ini/subversiv/links.html

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