Ausgabe 11 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Heimatmusik für die Massen

Allen Globalisierungsbestrebungen zum Trotz bleibt der Begriff Heimat im musikalischen Bereich unersetzlich: Ob Detroit-Techno, Eastcoast-HipHop oder Hamburger Schule - lokale Begrenzungen stehen entgegen allen vorausgesagten vereinheitlichenden Tendenzen für einen eigenen Stil, und weit mehr, für Authentizität. Ausgangspunkt dieser Authentizität ist natürlich Volksmusik.

Das Label Trikont nimmt sich verdientermaßen immer wieder diesen Themas an. Just sind fünf CDs unter dem Titel Rare Schellacks erschienen, die sich nach Städten (Wien, München, Berlin) oder Region (Sachsen, Bayern) der ersten massenmedialen Verbreitung von Volkskultur annehmen. In der Vielfalt der regionalen Ausprägungen und Besonderheiten fällt eines sofort auf: Was hier zu hören ist, hat mit dem Musikantenstadel wenig zu tun. Entgegen der inzwischen kultivierten Disneysierung von Volksmusik kommt es in unverblümter Sprache und überbrodelnder musikalischer Spielfreude zu einer Bestandsaufnahmen von Alltagskultur abseits von Romantisierungen.

Während in Wien Sinnlichkeit und Lebenslust das Erscheinungsbild prägten, München mit einer groben Derbheit glänzte, rekurrierten die Berliner Musiker ihren Stoff aus einer Mischung von Weltstadtanspruch und Mietskasernenalltag.

In einer Zeit enormer gesellschaftlicher Umbrüche und Ungerechtigkeiten fanden die Arbeiter hier zum ersten Mal so etwas wie ihre Stimme. In diesem Umfeld entstand der Schlager und bot der Hochkultur paroli. Paul Linckes Hits wurden überall nachgepiffen, Otto Reutter und Claire Waldoff kultivierten die Berliner Schnauze - spitz, frivol aber auch gefühlvoll. Auffallend ist vor allem der Humor und die Selbstironisierung, mit denen immer wieder - soweit es die Zensur erlaubte - die Obrigkeit angegriffen wurde.

Alles andere als rar ist momentan die kaum noch zu ertragene Kuba-Begeisterung. Gern schreibt sich Wim Wenders mit seiner belanglosen Dokumentation des Buena Vista Social Club diese Entdeckung zu. Abgesehen davon, dass er in seinem Film eher eine Ry Cooder-Show inszeniert und den kubanischen Musikern die spannenden Fragen erst gar nicht stellt, ist er indirekt tatsächlich für den hundersten Kuba-Sampler bei WOM oder Saturn verantwortlich. Weit entfernt von dieser Multikulti-Verramschung ist Bill Laswell. Unter dem programmatischen Titel Imaginary Cuba: Deconstructing Havana (Wicklow/BMG) geht Laswell sowohl respektvoll als auch souverän und frei mit dem vor Ort aufgenommen Material um. Hervorzuheben ist zunächst die Auswahl der Musiker: Laswell hat nicht nur Sessions mit Vertretern des vermarktungsfähigen Latin-Salsa-Stils aufgenommen, sondern auch den afrikanischen Wurzeln dieser Musik nachgespürt, die die Vielschichtigkeit dieser Musik ausmachen. Geradezu kongenial ist seine digitale Nachbearbeitung: Sie deckt das auch in vielen mittel- und südamerikanischen Filmen zu sehende surreale Element auf: Unterlegt sind die Aufnahmen mit diversen Samples von Aufnahmen in Havannas Straßen und Kneipen, dazu kommen Loops und Dub-Beats, die auf den (Hör-)Raum hinter der Musik verweisen.

Komplett dem Imaginären hat sich das Detroiter Techno-Projekt Drexciya verschrieben. Mythisch setzt Drexciya das Konzept von Heimat außer Kraft und in einem esoterroristischem Akt greift die Musik die klassische weiße (Kultur-)Geschichtsschreibung an: Ausgehend von der Frage, ob es möglich ist, dass schwangere Sklavinnen, die auf der Überfahrt von Afrika nach Nordamerika zu Tausenden als überflüssiger Ballast über Bord geschmissen worden, Babys im Meer geboren haben, die unter Wasser atmen können, entwirft Drexciya einen posthumanen Gründungmythos. Vor diesem Hintergrund von Sonic-Fiction entsteht eine Welt, in der sich die harten Fakten verflüssigen. Techno und Genmutation schaffen einen Alien, der an der Menschheitsgeschichte nicht mehr teilhat. Drexciya schreibt an einer eigenen Geschichte, entwirft eine eigene Kartografie und, wie mit der neusten CD Neptune´s Liar (Tresor), die den Untertitel Scientific Research Development Lab trägt, auch gleich noch eine eigene Wissenschaft.
Marcus Peter

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