Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Rainald Goetzwar mein Gefährte. Dieses obskure Netz war mir ganz neu und völlig fremd, doch wenn ich meinen Browser hineinschickte, brachte er jeden Mittag als erste Beute Goetz' Tagebuch auf den Bildschirm, und ich erfuhr, was dieser Kerl gestern getrieben hatte: mit dem Fahrrad durch den Tiergarten, dort diesen getroffen, hier jene Party, dazwischen Lektüre, Gespräche, Geschäfte, Geschäfte. Er schien soviel zu     tun    , schien in jeder Hinsicht so     erfolgreich    , und bevor er so mit links sein Tagwerk anging, schrieb er ganz nebenbei mal eben kurz herunter, was gestern gewesen war, was er gestern getan und gedacht hatte, und stellte seinen Abfall für alle ins Netz.

Wirklicher Abfall war dabei, "Sammeln ist Hoffnung, Wegschmeißen Freiheit" etwa, eine apodiktische Sentenz, die mich - mal wieder auf der Suche nach der Erinnerung - schwer beeindruckte; bis ich viel später erst bemerkte, dass ich einem rhetorischen Taschenspielertrick aufgesessen war, und dass allenfalls der zweite Satzteil stimmte. Aber ich las auch simple, treffende Beobachtungen und plötzlich benannte Gefühle wie diese: "Irgendwie rührt mich der Ernst, mit dem die Arbeiter fröhlich sind."

Der lesende Melancholiker nahm also, halb eingeschüchtert, halb erstaunt zur Kenntnis, wie der Provokateur von anno Tobak nun als hyperaktives Zappelfischchen im Strom der Hipness und des Zeitgeists schwamm.

Anfang Januar war Schluss, Abfall für alle tot, kein neuer Tag kam mehr dazu. Ein paar Wochen lang blieb die Leiche aufgebahrt, zur Besichtigung, zur Obduktion, zum Abschiednehmen. Später schickte einen rainaldgoetz.de ungefragt weiter zur Website des Suhrkamp-Verlages, und Martin Walser glotzte missverstanden vom Monitor. Heute gibt's nur noch eine Fehlermeldung.

Jetzt ist Abfall für alle als Buch erschienen, bei Suhrkamp, natürlich. Achthundert Seiten für fünfzig Mark. "Roman" steht darunter, wieder einmal. Angeblich deshalb, weil ja eh niemand wisse, was denn heutzutage noch "Roman" genannt werden könne. Hinter dem liberalistischen Trallala verbirgt sich der schlichte Umstand, dass nach Ansicht der Büchermacher das Wort "Roman" auf die Käufer eine ähnlich magische Wirkung ausübt wie Titten auf einem Illustriertentitel. "Roman": "Geil, das ist was zum Schmökern". Brrr!

Neu und interessant an Abfall für alle war die Schnelligkeit, mit der ein etablierter Schriftsteller seine Aufzeichnungen zugänglich machte; eine Schnelligkeit, die so nur im Netz möglich war. Jeden Tag ein Häppchen: moderne Kalendergeschichten, ein ganzjähriger Adventskalender zum Lesen.

Gegen Ende des Jahres dachte Goetz daran, den ganzen Abfall auf CD-Rom zu brennen und möglichst billig unter die Leute zu schmeißen. Suhrkamp hat's ihm ausgeredet, und das ist gut so: Was auf CD-Rom vermutlich nur das Defizit gegenüber der Netzversion demonstriert hätte, die statische Langeweile eines Adventskalenders mit offenen Türchen, das gewinnt durch den konsequenten Bruch mit dem Ursprungsmedium eigenen Charakter.

Goetz' Bemühen, seiner technoiden Nervosität ihren Lauf zu lassen, ohne sich völlig im reflexions- und bewusstlosen Rausch zu verlieren, macht "Abfall für alle" zu einer Müllhalde, in der man gerne nach Brauchbarem stochert. Etwa: "Ich will Frau Jelinek nicht kennenlernen müssen." Klingt das nicht wie der Titel einer verschollenen Erzählung von Peter Handke?

Rainald Goetz: Abfall für alle. Suhrkamp Verlag 1999, DM 49.80

bov.bjerg@prenzl.net

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