Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Vom Kolle bis zum Adlon nur ein Katzensprung
Fotos und Texte zur neuen alten Mitte

Der Portier aus dem Grand Hotel Esplanade steht im Schneeregen vor der Staatsoper und hält seine Uniformmütze mit einer Hand fest. Seine Wangenknochen schälen sich aus dem Gesicht. Leicht gebeugt werden wir als Gäste irgendeiner "wichtigen" Veranstaltung vor dem ausgerollten Teppich erwartet. Wir befinden uns inmitten der Szenerie, müssen aber dennoch nicht frieren. Bedanken können wir uns bei Jutta Voigt und Rolf Zöllner. Im Verlag Neues Berlin-Eulenspiegelverlag ist ein ansprechend gestalteter Text-Bildband der beiden Berliner Journalisten erschienen. Im "Spleen von Berlin", so der Titel, wechseln kurze Geschichten der Woche-Autorin mit den Wunderwerken in schwarz-weiß, des auch überregional bekannten Fotografen (Zeit, taz) ab. Intensiven Scheinschlaglesern bzw. -guckern dürften Zöllners Fotos trotz der mittelprächtigen Druckqualität in unserem Organ aufgefallen sein. Wird ein "Echter Zöllner" aus den Untiefen des Archivs auf den Redaktionstisch gezaubert verstummt ehrwürdig die Runde, genießt die Größe und Qualität der Prints und selbst der Schlampigste streift sich devot weiße Handschuhe über (Termine zur Archivbesichtigung werden auf der nächsten offenen Redaktionssitzung vergeben).

Thema des Buches ist die "neue"und alte Mitte der Stadt, sowohl Text als auch Bilder kreisen um die Innenstadtbezirke und ihre Bewohner. Auch der Wedding darf einmal mit dazugehören. Unprätentiös und direkt sind die Zeit/Ort Einschnitte des Überallfotografen. Besonders bei seinen zahlreichen Weitwinkel-Aufnahmen zeigt sich, daß es nicht genügt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Was Zöllners Fotos ausmacht, ist das nicht zu berechnende "Etwas" oder wie es Roland Barthes ("Die helle Kammer") bezeichnet, das "punctum". Jenes Detail, Licht, Stimmung, Blick , die aus einem gut komponierten das Bild machen. Viele FotografInnen schaffen historische Aufnahmen, weil Sie das Privileg der Anwesenheit hatten (Eine Vielzahl solcher Bilder von Barbara Klemm konnte man im Kronprinzenpalais Unter den Linden sehen).

Im Kleinbildformat (24 x 36 mm) plaziert Zöllner Menschen, ohne Sie zu deplazieren. Portraits sind selten, und wenn dann sind sie unverhohlene Sympathiebekundungen. Die erste Fotografie ist aus dem Jahre 1988, die letzte von 1999. Der Blick wandert aus dem Kiez, begibt sich ins "Neue Berlin", hin zu den Tempeln rheinischer Sehnsüchte, den Spielplätzen der Reichen und Arrivierten. Wohin die aufgetakelte Fregatte Berlin trudelt, wird spätestens dann klar, wenn sich beim Lesen beständig das Wort ehemals zwischen die Zeilen schiebt. Besetzte Häuser, die Penner vom Kollwitzplatz...

"Der Spleen von Berlin", Jutta Voigt und Rolf Zöllner,
Verlag Das Neue Berlin, 128 S., 76 Abb.
ISBN 3-360-00901-0

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  Ausgabe 09 - 1999