Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Vertreibung durch Duldung?

In 65 Bahnhöfen wird die strassenzeitung jetzt legal verkauft

"Tag auch, mein Name ist Klaus-Dieter. Ich bin obdachlos und verkaufe hier für zwei Mark die aktuelle EGAL WAS DRIN STEHT..." - So und anders werden in der Berliner S- und U-Bahn Obdachlosenzeitungen unter die Leute gebracht. Dieser Tage nun sorgte eine von ihnen, die "strassenzeitung", für Kurzmeldungen in der Presse: Mit BVG und Bahn sei man übereingekommen, daß der Verkauf in 65 Bahnhöfen genehmigt werde, allerdings nicht in den Zügen. - Eine kleine Sensation, nie zuvor haben Obdachlose für privates Gelände eine vertraglich festgeschriebene Duldung ertrotzen können. Ein Vorgang, der gleichzeitig aber auch einen kleinen Skandal darstellt. Denn im selben Atemzug wurde die Vertreibung andernorts (konkret: der untersagte Verkauf in den Zügen) offiziell akzeptiert. Der Protest dagegen ließ auch nicht lange auf sich warten. Die "motz", die den Vertrag jeder Zeit genauso unterschreiben kann, spricht offen von "Verrat"; die "strassenzeitung" mache sich zum Büttel der Verkehrsbetriebe.

Ungeachtet der Streitigkeiten, die die Obdachlosenzeitungen auch bei dieser Gelegenheit öffentlich austragen, bewegen sich beide Blätter auf einem Terrain, von dem gleichartige Projekte in der Bundesrepublik nur träumen. Sinn und Zweck der Presse von der Platte ist, daß sie da ist. Denn in nahezu jeder anderen Großstadt werden die Gazetten der Randgruppen leider auch am Rand verkauft. Aber Berlin ist eben nicht München.

Polizei und private Wachdienste hatten bislang alle Hände voll zu tun, den Verkäufern Grenzen zu zeigen - die Stadtgrenzen. So brachte es z.B. Andreas Gerschau von der "strassenzeitung", gegen den unlängst vor Gericht verhandelt wurde, auf 49 Anzeigen (!) wegen Hausfriedensbruch. Alles in allem hat sich bei der "strassenzeitung" einiges angesammelt an Bahnhofsverboten etc. In den vergangenen beiden Jahren haben Akteure des Blattes zweimal symbolisch die Halle im Bahnhof Zoo besetzt, zuletzt mit mehr als hundert Teilnehmern. Für Medienecho sorgten auch die ca. 20 Journalisten aus Presse, Rundfunk und Fernsehen, sowie einige Politiker aus dem links-alternativen Spektrum. Alle haben sie in U- und S-Bahn die "strassenzeitung" verkauft.

Bei diesen Aktivitäten blieb jedoch die erhoffte Resonanz im Wohnungslosenmilieu aus. Andere Selbsthilfegruppen (geschweige denn Obdachlosenzeitungen) schlossen sich nicht an, im Gegenteil: Während am 31. März für immerhin fünfzehn Minuten das Foyer im Adlon-Hotel besetzt wurde, unter dem Motto: "Es sind noch Betten frei!", mobilisierte gleichzeitig die sogenannte Bundesbetroffeneninitiative (BBI) zur Kundgebung auf dem Alexanderplatz. Gleichwohl es beim Versuch blieb, sah man bei der BBI selbst für eine gemeinsame Presseerklärung keinen Bedarf.

Im Sommer dieses Jahres war dann die Luft raus, die Stimmung bei der "strassenzeitung" auf dem Tiefpunkt. Mehr und mehr wohnungslose Verkäufer sahen sich vor die Entscheidung gestellt, entweder auf ihr Einkommen zu verzichten oder Gefahr zu laufen, diverse Tagessätze abzusitzen. So gab es zu den Verhandlungen mit den Verkehrsunternehmen keine wirkliche Alternative.
Karsten Krampitz

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  Ausgabe 09 - 1999