Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Ein Toast auf die ökologische Wende

1. Strophe: Deutschland

Gewiß wird sich die deutsche Gesellschaft niemals mehr so detailliert und mit soviel innerer Anteilnahme, froh oder wütend oder beides, an die Wende erinnern wie jetzt, zum ersten Jubiläum. Neben der politischen Notlage der DDR angesichts der Perestrojka-Sowjetunion und dem Überdruß an Mangelwirtschaft und Reiseunfreiheit war es auch die ökologische Unbelehrbarkeit der DDR-Elite, die die Wende ausgelöst hat-ein Grund sich zu erinnern: Wie war das also nach 1989 mit den Veränderungen in der Ökologie? Kam da die Wende?

Zum Beispiel: Wissen wir noch, wie das war, als im Dezember 1989 mit der "Oh frische Bohnen!"-Werbung von Tchibo die Reklameflut auch über unsere Briefkästen hereinbrach? Wie verständnislos wir auf die Berge von Verpackungen starrten, die wir plötzlich nach der Währungsunion vom Einkauf mit nach Hause brachten? Wie es alles zu kaufen gab außer dem, was es bisher gegeben hatte? Und wie jetzt kaum noch etwas ohne bunte Verpackung zu kaufen war und wir dies aber auch nicht kaufen wollten, weil es unmodern wirkte und blaß? Erinnern wird uns, wie dick nun die Tageszeitungen wurden, täglich ein halbes Kilo ungelesenes Papier, und wie die ersten Wochenzeitungen erschienen, unbestellt zum Wegwerfen? Wie die Straßen sich immer weiter füllten, obwohl die stinkenden Trabis und Wartburgs schnell verschwanden - weil sich nun jeder ein billiges stinkendes Altwestauto leisten konnte und auch nicht 20 Jahre darauf warten mußte? An Kiosken gab es jetzt stets Einweggeschirr; vorbei die Zeit, als man die Bockwurst auf dem Porzellanteller erhielt und ihn zum Abwaschen zurückgab. Vorbei auch die Zeit von Stoff-Handtüchern in öffentlichen Toiletten - das Einmalhandtuch aus Papier kam, sah und siegte.

Seien wir nicht einseitig. Gerade in ökologischer Hinsicht wendete der Anschluß manches zum Guten. Eine Unzahl von Richtlinien aus EU und deutscher Gesetzgebung zeigte Wirkung. Filteranlagen in Betrieben und Kraftwerken tauchten auf (Beispiel Rummelsburg), oft wurde freilich auch das Werk gleich dazu geschlossen (Beispiel Bitterfeld und Wolffen). Flüsse sind sauberer, Kläranlagen häufiger, dampfschnaubende Busse werden ausgetauscht und Altwestautos gegen Neuwestautos, Dreckautos werden vom TÜV angeschwärzt. Es gibt Wasseruhren, Kinder bekommen seltener Spielzeug mit Schadstoffen zu schlucken. Es gibt Umweltfarben, Solaranlagen (ein paar), Ökoparks und Biohöfe. Bioläden auch. Und schließlich, nachdem wir schon jahrelang die Verpackungen einfach weggeworfen und auf großen Haufen am Rande der Städte gesammelt hatten, kamen auch die Mülltrennung und das DASS über uns, die große Kollektion von grünen, blauen, gelben, braunen, weißen und anderen "Wertstofftonnen". Zwar führten die Unternehmen das Wiederverwertungssystem nicht freiwillig ein. Aber es fand sich jemand, der sie zwang. Es kam zu uns der naturgrüne Punkt, der uns vom schlechten Gewissen ob der Verpackungsmanie befreien hilft, obwohl grundlos.

Ein Detail nur verloren wir freilich für immer: Den peniblen Sammlerfleiß einer ganzen Bevölkerung, die jeden Zettel zu den Zeitungen legte und sich Samstags oder nach der Schule an eine SERO-(Sekundärrohstoff-) Sammelstelle anstellte, Generationen von Kindern, die ihr Taschengeld aus Altstoffen rekrutierten: 15 Pfennig fürs Kilo Schwarz-Weiß-Zeitungen, 20 Pfennig, wenn es bunte Journale waren, 30 Pfennig für ein Marmeladenglas und 15 für eine Schnapsflasche, bei Buntmetall und anderen spezifischen Materialen weit mehr.

Weniger Verpackung als in der DDR wurde sicher nur weiter östlich im Ostblock und weiter südlich in den Entwicklungsländern benutzt. Und vielleicht hat niemand mehr davon wieder eingesammelt. Mag sein, nirgendwo auch wurde der Bevölkerung spürbarer gezeigt, daß Waren zu verpacken den Verbrauch unwiderbringlicher Ressourcen bedeutet. Es war einer der wenigen Vorteile des Devisen- und Rohstoffmangels der DDR. Freilich: Nicht ihr Umweltbewußtsein ließ die Leute sammeln, sondern der finanzielle Anreiz. Zehn Jahre nach der Wende könnte die Bundesrepublik sich daran erinnern und ein allgemeines Pfandsystem schaffen.

2. Strophe: Rußland

An Devisen herrschte auch in der Sowjetunion steter Mangel, an Rohstoffen aber nicht. Trotzdem wurde auch hier einst manches Benutzte wieder eingesammelt. An diese Aufkaufstellen erinnern sich die Leute heute noch so gut wie an die Schlangen, in denen sie nach Lebensmitteln standen. Sie denken daran immer, wenn sie mal wieder über die unklare Gegenwart und Zukunft Rußlands nachdenken. Die Wende kam hier erst 1992, als die Regierung Gajdar die Preise freigab. Die Veränderungen danach unterscheiden sich von denen nach Währungsunion und Vereinigung in der DDR allerdings merklich. Die Zahl der Autos nahm kaum zu, denn die meisten Leute können sich nach wie vor keines leisten. Weil sie die alten immer wieder zurechtflicken, nahm deren Schadstoffintensität eher zu. Busse werden kaum ausgetauscht, nur manchmal kommen ausgemusterte aus Deutschland. Einen TÜV gibt es nicht. Die meisten Werke verdrecken die Umwelt wie eh und je, zumal ihre Maschinen immer älter werden. Nur wenn ein Werk geschlossen wird, fällt es aus der Quote. Zeitungen sind meist sehr dünn.

In einem aber gleicht das Bild sich. Mit der Konvertierbarkeit des Rubels zogen die Phalanx der Westprodukte und ihre Verpackungssucht in Rußland ein, und wie in der DDR dachten die Leute: bunt verpackt heißt gut modern. Mini-Saft oder Snickers, Cola-Büchse oder Kiosk-Einmalgeschirr, sie alle erzeugten nun Müll. Dazu kostenlose Wochenzeitungen, Reklamezettel. Wie in Ostdeutschland flog alles auf die Halde. Und das tut es bis heute. Denn die westlichen Firmen brachten natürlich ihre Produkte freiwillig auf den neuen Markt, nicht aber das aufwendige Wiederverwertungssystem. Und keiner ist da, der sie zwingt. Nach der Augustkrise 1998 sank der Umfang teurer Westimporte um fast 50%. Auf die Verpackungsmenge aber machte das keinen Eindruck, denn das Beispiel hatte längst Schule gemacht: Die meisten russischen Firmen, weil sie auch modern und gut erscheinen wollen, packen nun wie ihre Konkurrenten alles vielschichtig und vielfarbig ein: Jeder Einkauf eine Tüte; Früchte und Bonbons auf Styroporschalen, Saft in Tetrapaks, Bier in Büchsen, nur Gemüse, Kartoffeln, Milch holen die Leute wie früher im eigenen Gefäß. Auch die russischen Firmen zwingt niemand zur Wiederverwertung. Und das, obwohl das Land nun außer am Devisen- auch am Rohstoffmangel leidet, weil es seine Bodenschätze für Devisen exportiert. Die Leute aber denken nicht an Verpackungen, nicht an Müll und Umweltschäden. Sie denken an die unklare Gegenwart und Zukunft Rußlands. Das heißt, es fehlt an ökologischem Bewußtsein. Doch selbst wenn die Leute es hätten, könnten sie es nicht umsetzen. Denn dem Land fehlt mindestens ein DASS. Wenn Deutschland sinnvolle Entwicklungshilfe leisten möchte, könnte es die Einführung von Wertstofftonnen und einer Wiederverwertungskette wenigstens in Rußlands großen Städten initieren. Allein in Moskau und Petersburg wäre das der Zivilisationsmüll von 15 Millionen Menschen. Millionen Tonnen Müll nach westlichem Bilde.
Stefan Melle

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