Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Duales System als Gesellschaftsversuch
Berliner Freie Radikale in der Hölderlinstadt am Neckar

Sorgfältig geordnet liegen Zeitungsstapel unter dem Schaufenster des kleinen Ladengeschäftes in der Oderberger Straße. Vielleicht dienen sie zur Isolierung für die darunter liegenden Keller. Oder für die Galerie selbst. Niemand beachtet sie in der warmen Nachmittagssonne, die das Leben im Fluss hält unter den Platanen neben dem Waschsalon.

Zeitungen sind mit Nachrichten bedruckte Papierseiten und gestern schon so alt wie die Ausgabe von Morgen. Tausende solcher Moment-Skizzen begleiten den urbanen Wandel im Bezirk. Seit Jahren, tagtäglich, jederzeit, jetzt. Erinnerung:

fluten 1 wurde 1994 diskutiert als bezirksweiter Focus auf das Stadtbad Oderberger Strasse. Die Schwimmbekken des leerstehenden Gebäudes wurden mit einer Unzahl von Bildern geflutet. Somit hatte die Öffentlichkeit erstmals nach der Schließung vor zwölf Jahren wieder die Möglichkeit, das baulich mit aufwendigen Innenarbeiten gesegnete Gebäude wieder zu betreten. Urbane Installation als Bindeglied zwischen Verwaltenden und Verwalteten. Und als Faktor im politischen Werdungsprozeß.

1997 wurde mit fluten 2 alles anders. Mit Räumung und anschließender Schließung bewiesen Berliner Bäder Betriebe und Senat ihren kulturellen Unmut. Die Ausstellung konnte nur durch gemeinsame Bemühungen mit der Bürgerinitiative "Stadtbad Oderberger Straße" temporär für das Publikum geöffnet werden. Ansonsten blieb sie unsichtbar und durch behördliche Restriktion unvollendet.

Nun ist fluten 2 als Arche Noah gen Süden verschifft. Für die Zeit bis 10. Oktober 1999 im Tübinger Sudhaus zu sehen, zeigt das offene Projekt die spannenden Gegensätze des gleichzeitigen Nebeneinanders, die sich in den vergangenen zwölf Jahren in diesem Bezirk aufgetan haben. Über hundert Künstler haben die Zeitzeichen der letzten Jahre in ihrem ganz persönlichen Wohn- und Schaffensumfeld aufgelesen, sie extrahiert und in Plastikhüllen eingeschweißt für die Neuzeit konserviert. Jede einzelne Arbeit eine Information. Das Bild ist visuell zu erfahren, aber durch den Kunststoff nicht mehr spürbar. In eine blue box verpackt und auf die Reise geschickt, relativiert sich noch zusätzlich der Raum in dem die Zeit-Objekte sich zu verhandelbarer Kunst entwickelt haben. Die an der Ausstellung teilnehmenden Künstler sollen sich zu einer Botschaft subsummieren. Von dem Ort, an dem der Wind der Wende binnen eines Jahrzehntes den Kreis des Lebens in eine urbane Kunstwelt transformiert hat, zurück in die Provinz, aufs Ländle, nach drüben. Wo im Bewußtsein noch alles beim Alten ist...

Die o zwei fungiert dabei als Forschungsbüro mit treuhänderischen Aufgaben. So finden sich Arbeiten des Tacheles Mitinitialen Clemens Wallroth oder des Projektes Herbst in Peking. Alles kostbare Reliquien der künstlerischen Ursuppe im Berlin der Neuzeit. In einer Stadt, in der viele Fäden und Schnüre der Geschichte zusammenlaufen und neu-um-be-geschrieben wird. Wer wissen will, worum es sich dreht, sollte hinfahren und hoffen, dass die Austellung noch ein Heimspiel kriegt.
Stephan Eßwein

fluten 2, 12. Sep. bis 10. Okt. 1999
Galerie Peripherie im Sudhaus, Tübingen

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  Ausgabe 09 - 1999