Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Evergreens aus Weimar, postmodern angebraten

Zum letzten Mal Weihnachten: Edith Clevers szenische Collage "Am Ort - Frauen-Gestalten von Goethe" ist der Schlußakkord einer Schaubühnen-Ära

Der Mann als solcher sitzt im Fernseher und grinst. Gleich vier Exemplare hat die Regisseurin Edith Clever aus dem TV-Zoo, Abteilung Verhaltensstörung und Gesichtskrämpfe, befreit - und sie gleich wieder in die Glotze gepfercht, damit sie die Rede der schönen Helena als virtuelles Publikum dekorieren.

Die griechische Göttin wird auf einer elektrischen Scheibe fortwährend wie ein Werbeträger (etwa für "Drei-Wetter-Taft") gedreht, und rezitiert dabei ihren Text über die erotische Seite der Weltpolitik (Troja!) aus Faust II. Das scheint die TV-Herren nicht weiter zu tangieren, ebensowenig wie die Monologe der vier anderen Damen aus Goethes Dramen, die Edith Clever, bereits durch Ihre Inszenierung von Hoffmannsthals "Elektra" in der Erarbeitung profilscharfer Frauengestalten geübt, beherzt zu einem Kanon gesampelt hat. Die milchigen Paravents der Bühnendeko geben einen elegant geschwungenen Raum; Stahl, Prismen und Sand deuten locker und dezent erdgeschichtliche Zeitspannen an. Hier trifft sich die Goethe-Familie, die Alexandriner-Verse werden nochmal herausgeputzt, zumal es für das alte Schaubühnen-Team um Andrea Breth in die letzte Runde geht. Doch was die Collage "Am Ort - Frauengestalten von Goethe", kürzlich in Weimar uraufgeführt, über einen Beitrag zum Goethe-Jahr hinaus bedeuten will, behält sie recht hartnäckig für sich. Ikonographie des Weiblichen? Ilona Christen? Oder Bravo-Girl?

Da gucken die Herren blöd aus Röhre. Es ist hier keineswegs kokett zu fragen, ob am männlichen Beobachter die "message" nicht einfach vorbeirauscht wie eine Bildstörung.

Ich gehe trotzdem auf Spurensuche und erkenne Gretchen (Martina Krauel) in der Kerkerszene, ein häßliches Entlein, naiv, verzweifelt, wie sie mit einer Dornenkrone hantiert. Ich höre Iphigenie (Phillippa Ebe«ne«) die Gerechte, die das Werben des Barbarenkönigs auf Tauris in heilige Zwiespälte stürzt. Ich sehe die Revolution, als Klärchen (Nadja M. Schulz) ihre feurige Ansprache an Egmonts Volk hält und ich denke an Schwartau-Extra-Konfitüre, wenn Leonore de Este (Corinna Kirchhoff) im Pyjama von Torquato Tasso schwärmt.

Die TV-Geräte gehören hier de facto zur Familie und zappen erfreulicherweise ganz selbständig. Na klar: Auch dieses Stück gehört zum Medienquark, der mal die Realität war. Eine schwarz-gewandete Papparazza umschleicht geiernd das munter rezitierende Damen-Kränzchen.

Kommuniziert da wer? Mit wem? Texte? Frauen? Oder redet G. aus W. selig mit sich selbst? Es ist wie Weihnachten: Alle Lieben sind versammelt, die Mutter hat den Baum geschmückt und als Geschenk gibt es einen Bastelbogen ohne Anleitung. Der Gedanke an eine Schauspielprüfung scheint phasenweise als letzter Rettungsanker für den schwerelosen Text.

Fehlt der Zusammenhang, wo sonst hauptstadtkompatibel aufgespielt wird, kommt der Verdacht auf, daß es um etwas Grundsätzliches geht. Und voila! Im zweiten Abschnitt kreiselt die schöne Helena (Jutta Lampe) unversehens auf dem Präsentierteller. Die Vollendung des Weiblichen ist aus dem Reich der Mütter (Faust II) emporgekommen und sinniert nun darüber, "ein Idol zu werden". Zeit für die anderen, wieder die Schulbank zu drücken.

Kaum sitzen die Damen, kommt der Pferdefuß: Phorkyas alias Mephisto schießt auf einem Thron aus der Wand. Das Zwitterwesen aus Faust II, dämonisch, skalpellscharf und rasselnd wie eine Kettensäge. Tina Engels fulminanter, stimmmächtiger Auftritt - doch noch ein echter Höhepunkt.

Zwei Seelen schlagen (ach!) also auch in der Brust des Weibes. Wenn Edith Clever über das bloß ästhetische eines Werk-Schaulaufens hinaus den Texten eine Geschichte zurückgibt, dann die der Reife und des Frau-Werdens, von der Geburt über den Verlust der "Unschuld" (Gretchen) bis zum abgründigen Stelldichein mit der Teufelin. Das Wesen und Werden der Frau aus Goethe gesampelt: Ein eher trockener Klos zum Ende einer Ära, ein traditionelles Familienrezept, postmodern angebraten. Na, wird schon rutschen! Und was das neue Team an der Schaubühne angeht: Tina Engel als Dämonin, vielleicht nochmal einladen...
Klemens Vogel

"Am Ort - FrauenGestalten von Goethe"; bis 9. 11. in der Schaubühne am Lehniner Platz; Karten: fon 89 00 23.

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