Ausgabe 08 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ignorierende Koexistenz

Sieben Jahre war Bonn mein Aufenthaltsort. Und wie oft bin ich durchs Regierungsviertel spazierengegangen? Einmal. Im Dunkeln am ersten Weihnachtsfeiertag. Abends um acht Uhr. Feiertagsgemäß war´s menschenleer. Den inzwischen berühmten schlichten Metallzaun, an dem man rütteln konnte, habe ich links liegen gelassen.

Regieren habe ich als Dienstleistung begriffen, die unvermeidlichen Bilder aus nächster Nähe lieferte das Fernsehen. Die bescheidenen, unscheinbaren Bauten verlangten keine erhöhte Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich bin ich ein Opfer der "verspäteten Nation". Völlig unangefochten von einer baulichen Selbstdarstellung eines Staates.

In Berlin nun streckt sich das "Band des Bundes" als ahistorischer Superblock einen Kilometer in die Länge und 100 Meter in die Breite. Die mittlerweile erkennbare riesige Höhe des Kanzleramtes ist nicht mehr zu ignorieren. Hatte man beim Betrachten des Baus auf den Modellfotos noch die Bäume naiverweise als Vergleichsmaßstab für die Dimensionen herangezogen und sich einen aufgelockerten Kubus vorgestellt, sieht man heute, daß kein Baum der Nation den Klotz zur Hälfte verdecken wird. Die Selbstvergewisserung des Staates findet sich in umbauten Kubikmetern wieder. Viel Schauarchitektur und Leerraum zieht sich den weiteren Spreebogen entlang. Die Architekten des Kanzleramtes, Axel Schultes und Charlotte Frank, hatten die Absicht, "dem Volke Staat zu zeigen". Ich habe keinen Zweifel, daß es ihnen geglückt ist.

Auch an den Rändern des Areals zeigt sich der Staat. Der Spaziergänger wird auf eine meterhohe Mauer treffen, die vor Terroranschlägen schützen soll. Ob sie nun vier, fünf oder noch mehr Meter hoch sein wird, ist eigentlich gleichgültig. Die Weinranken, die den Beton gnädig verkleiden werden, sind schon bestellt.

Ob ein Zaun oder eine Mauer um ein Kanzleramt gebaut wird, erscheint zunächst nebensächlich, sagt aber eine Menge darüber aus, wie sehr man sich abgrenzen will. Genausogut könnte man feststellen, daß sich der Kanzler vom BKA einbunkern läßt. 16 Jahre hat ein 2,60 Meter hoher Zaun für einen Zweimeter-Regierungschef ausgereicht. Mittlerweile ist der Insasse zwei Köpfe kleiner geworden - aber die Mauer wächst.

Ob ich jemals im neuen Regierungsviertel spazieren gehe? Eher unwahrscheinlich. Wozu auch? Ein Bild vom Kanzler werde ich trotzdem haben. Auf jeder Zeitungsseite mindestens zweimal - von seiner schönsten Seite. Mich perönlich zu sehen, darauf legt er ebenfalls keinen Wert.
R. L.

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 08 - 1999