Ausgabe 08 - 1999berliner stadtzeitung
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Spitzenreiter Außenseiter

Im Ausstellungswesen zeigt nicht nur Marke Eigenbau die DDR als Ethnie des Absonderlichen

Mein Vater kannte Untätigkeit nicht. Er konnte sie schlicht nicht aushalten. Auf der Arbeit, aber auch zu Hause, im Garten und an der Garage musste er stets etwas werkeln und basteln. Er verwandte unendlich viel Zeit darauf, seine Laube selbst zu mauern, die Gehwegplatten selbst zu gießen, die Formen dafür aus Holz selbst zu zimmern. Er verlegte Rohrleitungen, baute Leitern, Wanneneinfassungen, Betten und vieles andere. Seinen alten Skoda reparierte er mit zunehmender Kompetenz selbst. Freunde, die Handwerker oder spezialisierte Heimwerker waren, standen ihm zur Seite. Alle besaßen unerschöpfliche Erfindungsgabe, wenn es Details zu lösen gab.

Vieles von dem, was mein Vater gern in Wohnung, Laube, Garage eingerichtet hätte, war nicht zu bekommen. Ob Fliesen, Bretter, einzelne Werkzeuge - in den Heimwerkerläden von Frankfurt/Oder gab es sie nie. Den meisten Selbstverwirklichungsübungen meines Vaters als Handwerker gingen lange, vergebliche Suchaktionen voraus. Auch meine Mutter hatte solche Gewohnheiten. Jahrelang strickte sie uns Kinderkleidung, Hosen, Jacken, Mützen selbst. Manche Sachen hat sie mehrmals auf neue Länge umgearbeitet.

Taschentücher, manchmal auch Handtücher, nähte sie selbst. Halbe Sommer verbrachte sie damit, Obst einzuwecken. Dabei sagte sie: Kinder brauchen Vitamine, und sonst gibt es ja im Winter nichts.

In der Ausstellung, die zum Sommer im Russischen Haus an der Friedrichstraße zu sehen war, hätten meine Eltern sich sicher wiedererkannt. Sie hätten erfahren, dass ihr Verhalten typisch war. Die Schau hieß "Marke Eigenbau" und wurde in ganz Berlin mit einem Plakat beworben, auf dem ein lustig umgebauter Trabi sogleich zeigte, dass es sich um eine Ausstellung zur DDR handeln musste. Vor Ort stellte sich zwar heraus, dass alle Exponate aus dem sächsischen Raum, genauer aus den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt, stammten. Doch als Beispiel dessen, was Erfindergeist in der DDR zuwege bringen konnte, mochten sie repräsentativ sein.

In -zig Varianten wurden etwa Rasenmäher vorgeführt. Diese raren Geräte waren zum Beispiel leicht zu imitieren, indem man einen Waschmaschinen- oder Staubsaugermotor auf ein Kinderwagengestell montierte und von irgendeiner lotterlichen LPG eine Schnittvorrichtung abstaubte. Ähnlich konnte man sich auch eine Kettensäge verschaffen, wobei einer der Selbsthelfer auch eine Westkaffeebüchse zum Benzinkanister umwidmete. Ein Musiker konstruierte sich aus zwei Akkordeons eine Heimorgel, ein Technikfreak eine Art Computerstudio. Doch das ist längst nicht alles, was in der DDR selbstgebrannt wurde. Sogar Lampen und Tischtücher schufen die Hausfrauen im Eigenbau, weswegen denn auch Stickdecken und Makramee-geknüpfte Lampenschirme im Russischen Haus vertreten waren. Der Wein, den meine Eltern zu Hause gärten, fehlte.

Gutwillig mag man diese Handwerkssammlung, die als Wanderexposition schon etliche Jahre und an vielen Orten ihre spezifische Bildungsarbeit leisten durfte, als Würdigung des ostdeutschen Einfallsreichtums verstehen. Neutral kann man sie als naive, arglose Unterhaltung betrachten. Dabei gelingt ihr mit dem bekannten Trick, heitere Nostalgie und nachdenkliche Erinnerung an die mühseligen Wege zur Vollversorgung im Mangelladen DDR zu wecken, das Publikum gut zu vergnügen. Doch die Ausstellung prägt, verfestigt und verbreitet auch bestimmte Vorstellungen vom Leben in der DDR. Deshalb muss man sie auch als Zurschaustellung eines einseitigen DDR-Bildes bezeichnen. Diesmal ist es die Bastellust aus Notwehr, die als Eindruck von dem vergangenen Land in die Köpfe eingegraben wird. Absicht oder nicht: Sogar mit selbstgebauten Brotmühlen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die doch in Deutschland dieselbe alltägliche Improvisation erzwang, suggeriert die Ausstellung ihre unterschwellige Botschaft: von Anfang an wurde in der DDR notgebastelt, und bis zuletzt hat das Notbasteln dort nicht aufgehört.

Sicher ist das richtig. Vermutlich hätten auch meine Eltern weniger selbst gewerkelt, wenn sie das Gesuchte einfach hätten kaufen können. Jedenfalls nahmen manche ihrer diesbezüglichen Aktivitäten seit der Wende merklich ab. Dennoch hinkt die Ausstellung auf großem Pferdefuß. Sie unterscheidet nicht mehr zwischen Gegenständen, die nur den Mangel zur Tugend machten, und jenen, die allein aus Spaß am Selbstgestalten entstanden. Sie verwischt, dass auch in der Bundesrepublik und allen Ländern der Welt Leute selbst ihre Gartenhäuschen errichten und Fliesen legen, Autos zu Rennschlitten hochstilisieren, Mützen stricken, Tischdecken besticken oder seltsame Maschinen zum Eigengebrauch erfinden. Besonders orginelle Beispiele dieser Spezies waren im DDR-Fernsehen die Würze der Humor-Sendung Außenseiter-Spitzenreiter.

Die Eigenbau-Ausstellung aber, wie auch die Mehrzahl ihrer Besucher, fragt nicht, wieviel Raum ihr Thema im Leben der DDR einst wirklich eingenommen hat. Es wird nicht erwähnt, wie viele Leute nie taten, was meine Eltern taten. Und dass auch Menschen wie meine Eltern alle Tage noch sehr viel anderes taten und was eigentlich. "Marke Eigenbau" beansprucht nicht, sich mit solchen Problemen zu beschäftigen. Das ist verzeihlich. Trotzdem: Auf die eine oder andere Weise gleichen ihr fast alle Ausstellungen zur DDR. Sie zeigen das Land entweder in Form eines ins Lächerliche verzerrten Alltags, dann verbinden sie Selbstbau-Unikate mit alten Fernsehern und sentimentalem Geschirr der 50er und 60er Jahre, oder sie betrachten das Land als ideologisches Ungetüm mit idiotischer, durch und durch gewaltsamer und menschenverachtender Politik. Dann sind Pionierlager, 1.Mai-Paraden, Stasiüberfälle, Truppenübungen und verhaftete Bürgerrechtler und Pastoren zu sehen. Immer aber erscheint die DDR als exotisches Gebilde, ihr Volk als eine kleine Ethnie von Sonderlingen.

Das mag gar nicht immer Absicht sein. Es ist dann etwas Schlimmeres: Gewohnheit. Das längst gewöhnte Bild wird immer neu reproduziert. Dabei ist es fast egal, welches Gebiet vorstellt wird: In Weimar wird die DDR-Kunst zur Masse zusammengeklatscht. Das Zeughaus hat in den letzten Jahren gleich mehrere Ausstellungen zu Kunst und Alltag wie eine Souvenir- und Kitschschau gestaltet. Die Bundesexpositionen teilen ein ähnliches Bild. Alle solche Darstellungen des Seltsamen aber schaffen und stützen auch die Möglichkeit, die DDR nicht nur als Gesamtentwurf, sondern auch in allen Details fraglos abzulehnen.

Dabei wäre oft mit den gleichen Exponaten durchaus etwas von der DDR zu erzählen, auch mit denen der Eigenbau-Ausstellung. Etwa mit den vielen Rasenmäher etwas über die den Westdeutschen so verwandte Liebe zum Bauen, Ausbauen und der allgemeinen Kleingartensucht. Mit den Motorrädern vielleicht von der DDR-Jugendkultur. Heute gibt es ein Stasi-Museum in der Magdalenenstraße, ein Mauermuseum in der Friedrichstraße, die Bundesausstellungen betonen die deutsch-deutschen Beziehungen. Das ist der allgemeine Themenkanon.

In all dem aber ist das Leben etwa meiner so DDR-typischen Eltern nicht wirklich beschrieben. Nach wie vor gibt es von der DDR kein adäquates Gesamtbild. Es fehlt eine unverstellte Darstellung ihres Alltags, ihrer Normalität. Wer hat schon eine ernsthafte Ausstellung zum Freizeitverhalten der DDR gesehen, zu ihrer spezifischen Arbeitskultur oder eine unvoreingenommene Darstellung von Vor- und Nachteilen ihrer Wirtschaftsstruktur, der Stadtbaupolitik? Wo ist die Betrachtung des sozialistischen Bildungswesens einmal über die Feststellung von ideologischem Einfluss hinausgekommen? Wer erzählt wirklich etwas zum damaligen Stand der Provinzkultur (noch mit allen Stadttheatern, Kulturhäusern, Kinos) oder über die einstigen Vorstellungen zu einer Hauptstadtkultur? Wo ist etwas Differenziertes über die Gedenkkultur der DDR zu sehen? Je länger aber all diese Lücken erhalten bleiben, um so wahrscheinlicher ist, dass man eines Tages das eingeschränkte Bild von der DDR für das ganze halten wird.

Einige wenige Bücher und Fotobände haben darin bisher Differenzierung geleistet. Unter den Ausstellungen erscheint als eine rühmliche Ausnahme die "Sammlung Industrielle Formgestaltung" in der Kulturbrauerei, die sich vor allem in ihren Wechselexpositionen immer mal wieder einem Problem ernsthaft stellt. Sie arbeitet, ähnlich der Sammlung zur DDR-Alltagskultur in Eisenhüttenstadt, vor allem privat. Zehn Jahre nach der Wende jedoch muss über die Sichtung von Politbürobeschlüssen und Stasikarteien hinaus endlich auch von den öffentlichen Kulturinstitutionen für das breite Publikum eine ernsthafte Alltagsbeschreibung der DDR vermittelt werden. Es ist an der Zeit, in Berlin, wo so viel leere Worte von der Einheit gesprochen werden, diese Darstellung endlich zu beginnen. Vielleicht als ein Museum des Alltags der DDR? In jedem Fall muss sich eine Arbeit entwickeln, in der die zu zeigende Hauptthese nicht schon vorher feststeht und dann mit einer Austellung nur bewiesen wird: Dass die DDR wie ein großes Ostfriesland war, das sich von alten und lächerlichen, gleichwohl strengen Diktatoren an der Nase herumführen ließ, ein Land, in dem jeder wie ein Teilnehmer von Außenseiter- Spitzenreiter war.
Stefan Melle

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