Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Symphonie der Großstadt

Jeden Morgen pünktlich um halb acht werde ich geweckt. Mein Wecker heißt Hess und ist ein Radlader, der unten im Hof des Nachbarhauses die wichtigste Maschine ist, die das Neue Berlin baut. Manchmal werde ich auch von Bosch geweckt, der Flex, mit der Pflastersteine zurechtgesägt werden, oder von Hilti, dem altgedienten Elektromeißel, der schon seit Jahren beim Umbau der benachbarten Poliklinik zur Schule treu seinen Dienst tut.

Das vertraute Dröhnen der Hilti erfüllt meine ganze Wohnung und bettet mich sanft ein in den Sound des Aufbruchs. Der Hauch von Dieselkraftstoff, den der Hess im Innenhof verströmt, läßt es mich riechen und schmecken: Hier werde ich Zeuge, wie eine moderne Metropole geschaffen wird. Rund um die Uhr bin ich mit Haut und Haar und allen fünf Sinnen mittendrin.

Das Neue Berlin entsteht seit gut fünf Jahren direkt vor meinem Fenster, direkt vor meiner Haustür, hier in der relativ unspektakulären C-Straße. Die Fassaden der Wohnhäuser werden neu verputzt und zitronengelb gestrichen, leere Dachgeschosse werden zu Lofts und Maisonette-Wohnungen ausgebaut und die alte Bierkneipe wird zur "bar di notte".

Schon ein kurzer Spaziergang durch die obere Hälfte der C-Straße zeigt: Soviel Aufbruch war noch nie. Während auf der Südseite der Straße schon die meisten der gutbürgerlichen Wohnhäuser aus der Gründerzeit in neuem Glanz erstrahlen, sind auf der gegenüberliegenden Straßenseite viele Häuser noch in der Rekonstruktion. Als weithin sichtbares Zeichen der Veränderung thront über der Straße der vor dem Haus Nr. 40 aufgestellte Kran. Mit dem fröhlichen Rufen der Gerüstbauer und dem metallischen Klingen der Module wird das Haus Nr. 39 gerade eingerüstet. Akrobatengleich balancieren sie auf dem wackligen Gerüst, das sich Etage um Etage bis an die Traufkante emporschiebt. Musikalisch untermalt wird dieses zirkusreife Kunststück von den größten Hits der siebziger, achtziger und neunziger Jahre.

Unter dem Gerüst entsteht eine Fußgängerunterführung, eine Galerie im eigentlichen Sinne, in der es nach frischem Beton und frischer Farbe riecht. Die Fahrbahn ist bis zur Hälfte abgesperrt. Hier stehen hinter mannshohen Gitterzäunen eine Vielzahl verschiedenfarbiger Schuttcontainer. Das Innere der Häuser wird nach außen gekehrt: Entrümpelte Einrichtungsgegenstände vergangener Zeiten kommen hier ebenso ans Tageslicht wie die Trümmer herausgerissener Mauern durch die Schuttrutschen in regelmäßigen Abständen in die Tiefe rauschen. Daneben lagert schon das Neue: Rockwool-Dämmmaterialien, Porit-Steine und Estrich-Zementsäcke auf Euro-Paletten.

Ein äußerst geschäftiges Treiben erfüllt die einst behäbige C-Straße. Man möchte dort den ganzen Tag die Geräusche, die Gerüche, den Anblick, die ganze Atmosphäre auf sich wirken lassen. Nur auf den ersten Blick ist es hier chaotisch und hektisch. Im Gegenteil: Bei näherem Hinsehen offenbart sich eine höhere Ordnung, die Symphonie der Großstadt.

Die Strategie des Senats, mit Berlins Baustellen Werbung zu machen, ist im Prinzip richtig. Doch bieten Events wie die "Schaustelle" nur die Hälfte des Vergnügens. Die Berliner Baustellenkultur hat eine künstlerische Ästhetisierung überhaupt nicht nötig. Und Straßen wie die C-Straße in Prenzlauer Berg gibt es zur Zeit viele in dieser Stadt.
Hanns Mentjes

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 07 - 1999