Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die Posttherapie

Das Dienstleistungspotential der Post wird völlig unterschätzt: Nicht nur Bank und Briefmarken, Buntstifte und Fotoecken vereinen sich bei ihr unter einem Dach, sondern auch jede erdenkliche Gemütslage wird zuvorkommend umsorgt.

Da wäre zunächst der Nachmittag am Monatsanfang oder -ende, man ist unausgeschlafen, alle Aggressionspotentiale sind restlos verbraucht. Es gilt, den Abend ohne größere Komplikationen zu erreichen. In solchen Fällen ist eindeutig die Filiale an der Torstraße anzusteuern. Sie beherbergt jene geniale Konstruktion, die auch bei allergrößtem Kundenandrang die Zugangsberechtigung zu den einzelnen Schaltern ultimativ regelt: Mittels einer an Baustellen erprobten Absperrtechnik wird die Bildung nur einer einzigen Riesenschlange vor den Schaltern erlaubt. Die entmutigende, selbstquälerische Frage, wieso man immer in der allerlangsamsten Reihe steht, ist hier gleichsam an ihrem Ursprung beantwortet. Statt dessen schiebt man sich frei mäandrierend durch den Raum, lediglich den davorschiebenden Rücken entspannt im Blick. Und das kollektive zeitdemokratische Schiebegefühl signalisiert: Hier sind alle gleich, aufregen überflüssig. Langsam und stetig geht´s vorwärts. Abend gerettet.

Verspürt man dagegen die entgegengesetzte Stimmungslage, empfiehlt sich die Filiale Chaussee-/Ecke Zinnowitzer Straße. Schon das riesige McPaper-Sortiment signalisiert, daß die Post hier eine nur untergeordnete Existenz führt. Und richtig, erst ganz am Ende des Raumes, nachdem man die Verkaufsregale zügig durchschritten hat, wird sie geduldet. Mehrfach existieren hier die Schlangenenden, von denen man ohne große Umstände das erstbeste ansteuern sollte. Wer zunächst meint, die unterschiedliche Schiebegeschwindigkeit böte nun den geeigneten Anlaß, den tagsüber aufgestauten Ärger nun auch wieder unter die Leute zu bringen, der gäbe sich mit einem winzigen Bruchteil des Möglichen zufrieden. Spätestens nach fünfzehn Minuten entfaltet sich ein weiterer ungeahnter Servicekosmos. Mittlerweile ist die Frau hinter der Theke schon zweimal in den hinteren Räumen verschwunden, um ein "niedergelegtes Schriftstück" zu holen. Leider, leider zweimal vergeblich. Leider nicht zu finden, man wisse auch nicht, obwohl der Postbote alles auf dem Abholzettel richtig gemacht hatte. Lautstark protestierend, kräftige Flüche ausstoßend, nutzten die beiden düpierten Kunden die Gelegenheit, aus sich rauszugehen und dem Magengeschwür Paroli zu bieten. Blickt man dann auf seinen Zettel in der Hand, ahnt man, welchen Schatz man da besitzt. (Einmal kam während der 40minütigen Wartezeit auch zur Abwechslung kurz Kurt Böwe vorbei, drehte aber sofort wieder auf dem Absatz um. Der war wahrscheinlich in ganz ausgeglichener Stimmung.)

Wem dagegen die gezielte Steuerung seiner Gemütslage unnatürlich erscheint, sollte sich an die wenigen, nahezu traditionell gebliebenen Postämter halten. Die Filiale in der Weddinger Gerichtstraße beispielsweise mußte lediglich eine neue kleine Teppichecke verkraften, wo das Postbankberatungs-center nun residiert. Ansonsten ist alles beim Alten geblieben. Ohne Ansprüche geht man in das Gebäude rein, Enttäuschung gibt es nicht, höchstens positive Überraschungen.
R. L.

© scheinschlag 2000
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