Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

"Was da an Körperteilen frei rumhing!"

Berliner Sommerparaden sehen aus Nordhessen betrachtet ganz anders aus

Es war Ende vergangenen Monats bei einem Besuch in meiner Heimat im nordhessischen Bergland. Meine Schwester hatte ihr Abitur mit Bravour bestanden, meine Mutter feierte mit Freunden ihren Geburtstag nach und ich konnte tagelang auf unverdreckten Wiesen meine Pigmente streicheln.

Das Wochenende verging schnell und kurz. Vor der Rückfahrt ins Neue Berlin trieb es mich noch in den kleinen EDEKA-Verbrauchermarkt am Orte. Ich wollte ja nicht mit leeren Händen in Berlin erscheinen und meinen Freunden in der Hauptstadt die kulinarischen Gaumenfreuden der heimischen Küche vorenthalten.

Es war Montag vormittag, die Belegschaft füllte die entleerten Regale vom Samstagseinkauf und ich bekam das Gewünschte. An dem Warenband hinter der Kasse saß auch schon die gute Frau Riedel, fleißig wie immer im weiß-blau-gelben Schürzchen und stets bereit zu einem kleinen Plausch, wie das bei uns halt so üblich ist. Doch als ich lächelnd vor ihr stand, bemerkte ich, daß das sonore Berliner "allet?" meine Smalltalkfähigkeiten auf das Abnicken und Bezahlen minimiert haben mußte.

Jedenfalls war die Dame hinter mir schon vor mir an der Reihe und sprang der Frau Riedel mit einem neckischen "Ach Guten Tach" in die üppige Oberweite. Höflich übergehend, daß sie noch gar nicht an der Reihe war mit dem Reden, sprudelten die beiden auch schon munter drauflos, ehe ich mich über diese Unverschämtheit wundern konnte. "Ach, tach Frau Sowieso. Sie ham da einen Fleck auf ihrem Pulli. Och, ich seh auch alles, ne?" "Ja, ja. Und ich dachte, er wäre schon rausgewaschen. Wissense, ich war ja am Wochenende in Berlin! Da war ja auch diese Schwulenparade gewesen." Aha, Christopher Street Day - es begann interessant zu werden. Aber Frau Riedel schien schon so lange nicht mehr aus ihrem EDEKA fortgewesen zu sein, daß schon das Stichwort "Berlin" genügte, sie zur Rückantwort aus ihrer Kassenbox zu animieren. "Ja, ja. Meine Schwester wohnt ja auch in West-Berlin, wissense, die wollte ich ja schon ewig mal besuchen, aber ist ja so voll da..." Sehnsuchtsblick auf die Weitgereiste. "Und dieser Techno, da ist ja immer was los, wie?"

Gern hätte ich mich an dem Gespräch beteiligt und etwas Aufklärungsarbeit über etwaige provinzielle Fehlinterpretationen geleistet, aber die beiden Kampfhühner entschwanden bereits über alle Ebenen offener Unterhaltung. Und mir fehlt es einfach an Erfahrung, einfach mitzupicken, wenn zwei "Alte" sich unterhalten. Beim Herausgehen, ich hatte derweil bezahlt, bekam ich noch den Kassenstau mit und war froh, mich für meine drei Millionen Mitbewohner nicht erklären zu müssen. "Ja, ja, und wissense, das war ja schon ulkig, was da an Körperteilen alles so frei rumhing!" Der halb erschrockene, halb erfreute Aufschrei Frau Riedels hallte noch stundenlang nach und dürfte bis zur Love-Parade noch nicht abgeklungen sein.
Etienne Mangerin

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 07 - 1999