Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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"Ich habe jede Menge Fragen"

Merkwürdigkeiten im politischen Prozeß gegen Demo-Organisatorin Nuran Ayten

Richter Brüning wirkt genervt. Wenn er nicht gerade Beweisanträge der Verteidigung abkanzelt oder Polizisten einfühlsam als Zeugen befragt, durchkämmt er die Zuschauerbänke mit strengen Blicken nach Störern. "Wenn Sie nicht aufhören, mitzuschreiben, muß ich Sie aus dem Saal entfernen lassen", raunzt er einen Prozeßbeobachter an. "Sie könnten mit ihren Notizen Zeugen unzulässigerweise beeinflussen", schickt er erklärend hinterher. Zeugen, das sind hier fast ausnahmslos Polizisten. Der Gast hatte ein Porträt eines Mitglieds der Staatsschutzkammer beim Landgericht gezeichnet. Dann stören Brüning vereinzelte Zwischenrufe, Geklatsche, Buh-Rufe des Publikums.

"Volksverhetzung" und "Verunglimpfung"

Doch die Unruhe angesichts dieses Verfahrens gegen Nuran Ayten (auch bekannt als Moré Keskin) als langjährige Polit-Aktivistin und Organisatorin zahlreicher "Revolutionärer 1. Mai-Demos" kann kaum überraschen. Denn die Anklage der Staatsanwaltschaft strapaziert Paragraphen des Strafgesetzbuchs bis an die Grenze. Die Vorwürfe gegen Nuran Ayten im einzelnen: Sie soll am 1. Mai 1994 das Lied "Deutschland" der Gruppe "Slime" per Lautsprecher abgespielt haben und Polizisten mit Parolen ("Deutsche Polizisten-Mörder und Faschisten") beleidigt haben. Obwohl das über 15 Jahre alte Lied nicht verboten ist - sogar "Saturn" am Alexanderplatz verkauft die CD - klagte sie der Staatsanwalt wegen "Volksverhetzung" an. Außerdem soll sie an diesem Tag vor dem Brandenburger Tor eine Deutschland-Fahne verbrannt haben. "Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole" heißt das. Hier ein paar Zeugenaussagen von Polizisten im Gerichtsaal zum Thema - und unter Eid: "Ich habe das nicht gesehen, aber Kollegen haben mir davon erzählt" oder "Vielleicht war das eine Fahne, vielleicht aber auch etwas anderes. Ich stand einfach zu weit weg." Oder: "Ob ich sie auf der Demo gesehen habe, kann ich nicht sagen. Aber ihre Stimme kenne ich von anderen Demos." Oder: "Ich habe mich anhand von Fotos früherer Demos und mit Hilfe älterer Kollegen auf meine Aussagen vorbereitet. Von Absprachen kann aber keine Rede sein."

Verteidigung fordert Freispruch

Weiterhin soll Nuran Ayten auf zwei Demonstrationen im Mai 1995 Fahnen der verbotenen kurdischen Gruppe ERNK geschwenkt haben. Als Beleg sollte ein Polizei-Video dienen. Richter Brünings Fazit: "Ich habe Zweifel an der Wiedererkennung". Auch Vorwurf Nummer zwei wegen "Verstoß gegen das Vereinsgesetzes" scheint entkräftet. Die Anwälte Benjamin Raabe und Brigitte Kolb wollen daher den Freispruch. Trotzdem sitzt Nuran Ayten seit dem 1. Mai 1999 im Pankower Gefängnis in Untersuchungshaft - der Haftbefehl galt bereits seit Oktober 1995. Auch diese Haft ist ein rechtlicher Skandal. So behauptet das Gericht, daß Nuran zeitweise untergetaucht gewesen sei. Daß sie polizeilich in Berlin gemeldet ist, einem festen Job in einem Café nachging, spielt keine Rolle. Auch war sie erst kürzlich zu "Deeskalations"-Diskussionsrunden mit Polizisten geladen, trat im Fernsehen auf, meldete offiziell Demos an. Der Prozeß mußte zwar mehrmals verschoben werden - wegen einer handfesten Gallen-Operation. Jetzt verzögert sich der Prozeß bis weit in den Sommer, weil Polizisten, die als Zeugen geladen sind, Urlaub haben.

Dann griffen auf dem diesjährigen "Revolutionären 1.Mai" Zivilpolizisten zu und nahmen sie mit. Als Staatsschutzrichter Brüning sie dann fragte, ob sie Fragen zum Prozeß habe, mußte sie nicht lange überlegen: "Ich habe jede Menge Fragen."
max

Der Text des Slime-Songs "Deutschland":

"Wo Faschisten und Multis das Land regieren,
wo Leben und Umwelt keinen interessieren,
wo alle Menschen ihr Recht verlieren,
da kann eigentlich nur noch eins passieren:

Deutschland muß sterben,
damit wir leben können.

Schwarz ist der Himmel und rot ist die Erde,
Gold sind die Hände der Bonzenschweine,
doch der Bundesadler stürzt bald ab,
denn Deutschland wir tragen dich zu Grab.

Wo Raketen und Panzer den Frieden sichern,
wo AKWs und Computer das Leben verbessern,
bewaffnete Roboter überall,
doch Deutschland wir bringen dich zu Fall.

Deutschland muß sterben,
damit wir leben können.
Deutschland verrecke,
damit wir leben können. Deutschland."

© scheinschlag 2000
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