Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
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Stadtrundfahrt am Abend

Noch ist es hell, Freitagabend in der Oranienburger Straße, die Huren marschieren gerade auf, einige Kids liegen bedröhnt in der Durchfahrt zum Tachelesgarten, die Tram klingelt wild, alles ist also wie immer, da fährt ein Reisebus vor.

Linda, dauerlächelndes Geschöpf der Dienstleistungsepoche, mit falschem, blondem Haar, stellt sich als Reiseleiterin vor und gibt die Route bekannt: Unter den Linden, Schloß Charlottenburg, Kudamm, Friedrichstraße, was eben so dazu gehört. Geduldige Erwartung beim Publikum. Stadtrundfahrten sind was für Touristen. Man weiß doch, wo man zuhause ist. Linda spult gicksend ihr Programm ab, links, rechts, links, links, sehen sie nur, und da hinten, ja, links, das Rote Rathaus, das ist Berlin, Aufbruch, Irrsinn, Resignation. Ist schon eine Wahnsinnsstadt, wo sonst gibt es abendliche Busrundfahrten mit Poesie und Spaß?

Da kommt, alles läuft nach Plan, der Bus von der Route ab. Linda steigt aus, ein kleiner Herr im altmodischen, aber eleganten Anzug, mit Hut, tritt auf und erzählt in abgeklärter Polizeiermittlermanier die Geschichte von Lucy Berlin, die vor genau 90 Jahren spurlos verschwunden ist. Es ist natürlich der Fall seines Lebens und er läßt kein unwichtiges Detail aus. Der Bus fährt derweil an der East Side Gallery vorbei, die Abenddämmerung wirft ihr Licht der letzten Dinge auf eine der schönsten Gegenden der Stadt, selbst das geschmacklose Allianzgebäude wirkt bescheiden, als sei es Bestandteil eines höheren Plans. Der Irrsinn macht einer wohligen Schläfrigkeit Platz. Ein rumpeliger Pfad führt durch zukünftige Großstadtvorstadt, Leben am Wasser und im Grünen in Alt-Stralau, wer gern ein Viertelchen von einem idyllischen Mehrfamilienbungalow haben will, der sollte da mal hin. Der Ermittler im Anzug ist durch einen Typen in Verbandszeug ausgetauscht. In gepresstem Ton fabuliert er vom Verbrechen und von Obsession und dem blutigen Ende der Depression. Alles ist ruhig und niedlich. In der Pfarrstraße verhaftet die Polizei ohne Aufregung einen Dieb. Irgendwann, in einer besonders herunter gekommenen Straße, behauptet Linda, die wundersamerweise wieder an Bord ist, hier sei der Äther, der Nabel der Welt. Hier, in diesem Moment der Helligkeit, als alle Stadt, die man zu kennen glaubte, abgeplatzt ist, wie ein zu enges Korsett. Der Äther, das ist die Pettenkofer Straße, na klar.

Gleich um die Ecke ist noch eine besondere Überraschung vorbereitet. In einer toten Ecke, zwischen einem Fußgängersteg über die S-Bahn, einer Sackgasse und einer Mauer mit Stahltür, hat ein gut gekleideter Herr einen beleuchteten Globus aufgebaut und beschwört etwas Altes, Ursprüngliches, Unverständliches. Ein Steppenwolf feiert sein Martyrium, den Untergang der schönen, alten und ideenreichen Welt. Für einen Moment leuchtet die Idee dieser Inszenierung tatsächlich auf. Man soll den Boden einer überreizten Gegenwart unter den Füßen verlieren.

Die Busreise, inszeniert von Lajos Talamonti, will zu den Quellen der Phantasie vorstoßen. Aber wie bei jeder Stadtrundfahrt treiben nur Oberflächen vorüber. Es ist immerhin eine schöne Chill-Out-Variante, weil die ausgewählte Strecke, die Stadt selbst, in der Sommerabenddämmerung einen Ausflug lohnt. Als theatralische Inszenierung, die noch mehr sichtbar machen will, als das, was man kennen könnte, bleibt die Stadtrundfahrt aber blaß und einfallslos.
Felix Herbst

"Ersatzverkehr - Glück vergessener Träume", nochmal am: 16., 17., 18. Juli, Abfahrt: 21 Uhr vor dem Tacheles.

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  Ausgabe 07 - 1999