Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
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Die ganze Tragödie, unsere private wie die allgemeine

Der serbische Schriftsteller Bora Cosic

Schriftsteller und Intellektuelle aus dem ehemaligen Jugoslawien sind derzeit gesuchte Auskunftspersonen. Man möchte von ihnen wissen, wie das alles passieren konnte, wann Milosevic endlich gestürzt wird, und überhaupt, wie es weitergehen soll in Serbien und im Kosovo. Einer von ihnen ist der 1932 geborene Bora Cosic, der jetzt schon seit einigen Jahren in Berlin lebt. Auch er war Anfang Juli eingeladen zur internationalen Kosovo-Konferenz "Krieg in Europa" im Haus der Kulturen der Welt. Während dort albanische Autoren wie Ali Podrimja oder Ismail Kadaré begreiflicherweise in erster Linie ihre große Erschütterung artikulierten und deutsche Literaten wie Peter Schneider und Hans Christoph Buch unbegreiflicherweise in ihrem Maulheldentum am NATO-Krieg einzig auszusetzen hatten, daß keine deutschen Soldaten ihr Leben riskierten, ist Cosic eine Stimme der Besonnenheit. Er spricht von seinem Volk, wenn er von den Serben spricht und er meint, dieses Volk sei von sich selbst okkupiert. Wenn er der Hoffnung Ausdruck verleiht, Kosovo-Albaner und Serben könnten in Zukunft vielleicht doch friedlich zusammenleben, klingt das in erster Linie resignativ.

In den letzten Jahren sind nun endlich einige Bücher von Bora Cosic auf Deutsch erschienen, zuletzt die 380 Seiten starke, fulminante Suada Bel Tempo. Ein Jahrhundertroman (Originalausgabe Beograd 1982). Wie schon in Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution spiegeln sich die historischen und menschlichen Katastrophen im privaten Mikrokosmos. "Am liebsten sitzen wir herum und reden zusammenhangloses Zeug, wie in einem Theaterstück", heißt es in der Rolle meiner Familie über die Belgrader Sippe, die von den Kriegswirren in den Sozialismus schlittert. Eine Theaterfassung des Buches brachte Cosic jahrelanges Publikationsverbot ein. In Bel Tempo ist die Versuchsanordnung noch weiter zugespitzt: Es ist ein großangelegter Monolog der "ältesten Fernsehzuschauerin Europas", Jahrgang 1886, die ihre Tochter und ihren Enkel, den Schriftsteller, im Dauermonolog tyrannisiert. Der ungefilterte Müll aus dem Fernsehen vermischt sich mit "Lebensweisheiten", gnadenlos wird Optimismus verbreitet, alles wird kommentiert. Am Ende dankt die Alte ihrem Enkel für seine Mühe, "aus allen diesen Dummheiten so ein Buch zusammenzurühren". Die Sprache und die Bilder der Medien, das falsche Bewußtsein - all das verdichtet sich in diesem Buch zu einem beängstigenden Mahlstrom.
Florian Neuner

Bora Cosic: Bel Tempo. Jahrhundertroman (aus dem Serbischen von Irena Vrkljan und Benno Meyer-Wehlack). Rowohlt Berlin 1998. DM 39.80

Bora Cosic: Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution (aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann). Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1996. DM 12.90

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  Ausgabe 07 - 1999