Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Der große Bruder

Oder wem gehört mein Gesicht?

Dunkel war es geworden. Zehn Uhr abends. Wir näherten uns dem Ziel, befanden uns schon auf der Straße Am Nordbahnhof. Jetzt nur noch in die Zinnowitzer Straße einbiegen. Gleich würde alles erledigt sein. Sorgfältig hatten wir morgens unsere Kleidung ausgewählt. Jeans, dunkle Jacken, Schuhe mit flachen Sohlen. Unauffällig ging man heutzutage durch die Stadt. Auf der linken Straßenseite tauchten jetzt die hell erleuchteten Fenster auf. Riesige silberne Metallgeräte standen in den Räumen. Fleischwölfe, Mischtröge, Kessel. Ein Hackklotz. Und Messer. Auf den Regalen standen große Blechbüchsen. Sie trugen Etiketten. Chinesische Pilze stand auf einem. Alles war weiß gekachelt. Und menschenleer. Die Deckenlampen warfen ein steriles Licht. Kalt schimmerten die großen Stahlbecken. Plötzlich die herrische Stimme aus dem Dunkeln. "SIE STÖREN DA!" Die Angst kroch hoch: Waren wir gemeint?

Tatsächlich, der Wachmann war aus seiner Kommandozentrale auf den Bürgersteig gekommen und blickte uns drohend an. Wir wechselten die Straßenseite und erreichten endlich unser Ziel. Glück gehabt: die Nachtleerung war noch nicht durch. Der Brief würde fristgerecht ankommen.

Am nächsten Tag schaute ich mir das Gebäude an der Chausseestraße / Ecke Zinnowitzer Straße wieder an. Hektische Videoclips wurden von innen auf die riesigen Fensterflächen gebeamt. Man war gezwungen, ständig dahin zu gucken, soviel Aufmerksamkeit verlangten sie durch ihre schnelle Abfolge. Manchmal wurden sogar zwei oder drei gleichzeitig projiziert. Irgendwann gab ich die Suche nach dem Sinnzusammenhang der einzelnen Clips auf. Und dann erst entdeckte ich überall an der Fassade diese kleinen künstlichen Augen: Videokameras. Die ganze Wand war voll davon. Sie hatten den ganzen Bürgersteig unter Kontrolle. Auch die Post gegenüber hatte nachgezogen und welche an ihrer Wand installiert. Langsam kam ich hinter ihre Absicht: vorne an der Hauptfassade durfte ich so viel starren, wie ich wollte. Was innnen in dem Gebäude stattfand, würde ich trotz Glasscheibe nicht erfahren. Statt dessen versuchten sie durch die Bilderflut meine Sinne zu benebeln. An der Fassade in der Nebenstraße war Gucken dagegen nicht vorgesehen. Da waren wir am Abend zuvor von den Videokameras eingefangen worden. Wir wurden verjagt, obwohl wir uns auf dem öffentlichen Bürgersteig befanden. Trotzdem: So richtig klar war mir das Ganze immer noch nicht. Auf den ersten Eindruck hin schien das gestern Abend nur die Großküche gewesen zu sein.

Das Gebäude ist der Sitz der Hauptverwaltung der VEAG, des größten ostdeutschen Stromunternehmens. Mittlerweile ist für Künstler ein Video-Wettbewerb zur Fassadengestaltung von der VEAG ausgeschrieben worden. Ich möchte mich gerne daran beteiligen und biete an, die Kabel von den Videokameras, die zu den hauseigenen kleinen Überwachungsmonitoren führen, abzuklemmen und statt dessen an die großen Videobeamer anzuschließen.

Ragna Lindström

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 06 - 1999