Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
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Nackte "Wahrheiten"

Zwangsweise Altersfeststellung von Flüchtlingen stößt auf Protest

Es wirkte schon etwas abenteuerlich, als am 20. Mai gegen Mittag etwa 50 Personen die enge Treppe des rechtsmedizinischen Instituts der Berliner Charité hochschlichen, immer darauf bedacht keine Geräusche zu machen. Die Vorsichtsmaßnahmen waren unnötig. Professor Gunther Geserick, dessen Vorlesung das Ziel der illustren Runde war, war von dem plötzlichen Besuch ebenso überrascht wie die etwa 30 KommilitonInnen. Daher konnten die ungebeten Gäste auch zunächst ungestört ihre Transparente ausrollen und mit der Vorführung eines Sketches beginnen. Eine maskierte Frau zog sich bis auf die Unterwäsche aus, während sie von einem Schauspieler im weißen Kittel eingehend begutachtet wird. Ein Sprecher liest derweil die Ergebnisse vor. "Die betreffende Person ist von kräftigen Körperbau. Ihre Zähne sind gut ausgebildet." Das Lachen blieb den StudentInnen im Hals stecken, als sie erfuhren, daß diese Szenen für Flüchtlingskinder Realität sind.

"In einem 4 mal 2,50 Meter großen Raum befanden sich zunächst der nur für die Untersuchung zuständige Arzt, der für die Anfertigung von Fotos anwesend war, der Zahnarzt und eine Betreuerin sowie die angehende Vormünderin des 15jährigen Mädchens. ...Nachdem der Zahnarzt den Raum verlassen hatte, wurde sie aufgefordert, sich komplett auszuziehen, um so die Ausprägung ihrer Geschlechtsmerkmale erkennen zu können." Was die Begleitperson eines nordafrikanischen Flüchtlingsmädchens protokollierte, mußten in der Charité seit 1996 rund 150 Flüchtlingsjugendliche zwecks behördlich angeordneter Altersfeststellung über sich ergehen lassen.

In 100 Fällen sollte ihre Strafmündigkeit festgestellt werden. In den übrigen Fällen ging es um den Fortgang ihres Asylverfahrens. Während Flüchtlinge unter 16 Jahren dem Jugendamt unterstehen und Anspruch auf einen Vormund, regelmäßigen Schulbesuch sowie Versorgung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz haben, müssen Jugendliche über 16 Jahren ihren Asylantrag ohne jegliche rechtliche Unterstützung stellen und werden wie volljährige Flüchtlinge auf alle Bundesländer verteilt in Sammelunterkünften untergebracht.

Am Schluß ihres Go-ins bei Geserick forderte Marion vom Büro für medizinische Flüchtlingshilfe e.V., das gemeinsam mit dem Verein Wildwasser e.V. die Aktion organisierte, die Abschaffung der Altersfeststellung. Die Behörden sollen den Altersangaben glauben, die die Jugendlichen selber machen.

Die Untersuchungen haben auf die Betroffenen häufig eine traumatisierende Wirkung, während die medizinischen Ergebnisse von der Berliner Ärztekammer als völlig unzuverlässig eingestuft wurden. "Selbst wenn der Zahnstatus untersucht wird, kann die Abweichung vom realen Alter zwischen zwei und drei Jahren liegen", meinte Dr. Angelika Mindel von der Berliner Ärztekammer. Daher habe das rechtsmedizinische Institut der FU Berlin im Gegensatz zur Charité eine Durchführung dieser Untersuchungen abgelehnt.

"Was wir hier machen, bewegt sich auf dem Boden des geltenden Rechts. Wenn sich junge Flüchtlingsfrauen vor männlichen Ärzten entkleiden müßten, läge das schlicht an fehlendem weiblichen Personal", war der einzige Kommentar von Professor Geserick. Ansonsten war er auch gegenüber der Presse zu keiner Stellungnahme bereit und drohte mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Da aber war die Aktion schon zu Ende und die Protestierenden verließen mit den PressevertreterInnen unbehelligt das Institut.

Der Protest gegen die Altersfeststellungsuntersuchung geht aber weiter, versichern die Organisatoren des Protestes. Sie erwarten, daß sich auch die Oppositionsparteien Bündnisgrüne und PDS aktiv werden. Schließlich wurde 1996 nach Protesten von Flüchtlingshilfsorganisationen auf Empfehlung des Ärztetages in Hamburg die Handröntgenmethode zur Altersfeststellung jugendlicher Flüchtlinge eingestellt.

Peter Nowak

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