Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
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Nachdenken über Sumpfblüten

Lyrik in der Debatte

Einen "unzeitgemäßen Gegenstand" und "das Esoterischste, das es gibt", hat der Merkur, die "deutsche Zeitschrift für europäisches Denken" sich für sein Jubiläums-Sonderheft Nr. 600 vorgenommen. Es ist der Lyrik gewidmet. "Die Zeit ist gegen Lyrik", heißt es in einer Anzeige des Hanser-Verlags, und der Merkur verkündet: "In prosaischen Zeiten sollte man Lyrik lesen." Fragt sich bloß, welche Lyrik.

Daß es die Lyrik nicht gibt, mag ein Gemeinplatz sein, und doch wird allenthalben so getan, als gäbe es so etwas wie die Sache der Lyrik, die zu fördern und zu verteidigen wäre, der viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteil werde, besonders in Deutschland. In Wirklichkeit gibt es unter den Lyrikern Erfolgsautoren wie Robert Gernhardt, gibt es eine Friederike Mayröcker, auf die das Etikett "esoterisch" vielleicht wirklich irgendwie zutrifft, es gibt konsequente Vertreter einer avancierten, sprachreflektorischen Lyrik wie Gerhard Rühm und ästhetische Reaktionäre wie Reiner Kunze. Lediglich im Lamento sind sich alle einig: "Die Bedingungen des Gedichts sind, und das nicht nur bei Lichte betrachtet, miserabel", schreibt etwa Gerhard Falkner, "und zwar in allen damit zusammenhängenden Faktoren. Sie sind so miserabel, daß man sich fragen muß, wieso diese Sumpfblüte überhaupt noch existiert." Aber sind wirklich die Lyriker am Schlimmsten dran? Wer sich nicht den Marktdiktaten der großen Verlage ausliefert, der wird von Prosa mit Sicherheit genausowenig leben können. Nicht nur Romane, auch Gedichte gibt es auf unterhaltungsindustriellen Schwundstufen, in Form von Songtexten, von "lyrics". Mit der Klage um die Marginalisierung dieser Textgattung - ernsthaft sind Gattungsgrenzen heute ohnehin nicht mehr aufrechtzuerhalten - geht die Überzeugung einher, etwas ganz Besonderes, Unverzichtbares zu leisten mit der Herstellung von Gedichten. Wenn emphatisch von "Poesie" oder dem "Dichter" X. Y. die Rede ist, schwingt etwas von diesem Pathos mit, denn diese Begriffe klingen nicht nur anachronistisch.

Für die Lyrik müsse etwas getan werden, heißt es überall. Und in der Tat wird ja auch eine ganze Menge getan. Ständig erscheinen Anthologien unterschiedlichsten Niveaus, teilweise sogar äußerst erfolgreich, und die Bilanzierungswut grassiert sowieso am Ende des Jahrhunderts, während die von Marcel Reich-Ranicki angeleierte Frankfurter Anthologie bereits auf über 20 Bände angeschwollen ist. Dazu kommen idealistische Verleger wie Urs Engeler aus Basel mit seiner Zeitschrift "Zwischen den Zeilen" und Institutionen wie die literaturWERKstatt in Pankow, die sich ebenfalls schwerpunktmäßig für die Lyrik ins Zeug legen - gerne in Verbindung mit Jazz, der ja nach einer geläufigen Fehleinschätzung mit Gedichten eine besonders glückliche Verbindung eingeht. Es wird schon etwas getan für die Lyrik, und wie das bei Minderheitenthemen der Fall zu sein pflegt, zu nicht kleinen Teilen aus unreflektierter Liebhaberei. Der Merkur und ein von Joachim Sartorius zusammengetragenes Buch mit dem prätentiösen Titel Minima Poetica erheben immerhin den Anspruch, theoretische Reflexion über ihren Gegenstand zu leisten. Welche Gedichte brauchen wir heute also?

Das Merkur-Sonderheft stellt in einem ersten Teil die "Cr¸me der deutschsprachigen Lyriker" vor, wie es großmäulig heißt. Vertreten sind dort in der Tat viele von denen, die im Literaturbetrieb einen Namen haben. Entdeckungen macht man hier keine. Die nach Dienstalter der Verfasser angeordneten Gedichte ergeben ein nicht nur buntes, sondern durchaus widersprüchliches Bild. Neben den raffiniert gemachten Texten eines Paul Wühr stehen der biedere Johannes Kühn, die solitäre Friederike Mayröcker, Enzensberger liefert glatt-pointierte Gedichte, Durs Grünbein und Volker Braun dröhnen ziemlich hohl. Der unvermeidliche Robert Gernhardt ist ebenso vertreten wie Elke Erb, von den etwas Jüngeren Peter Waterhouse oder Thomas Kling.

Will man sich nicht mit der Feststellung bescheiden, wie schön diese Vielfalt doch sei, wird man gespannt sein auf Teil zwei des Hefts, auf die Essays, doch die sind leider eine Enttäuschung. Reichlich unmotiviert findet man hier neben einem Aufsatz über "Heidegger, Nietzsche und das Haiku" einen Text über den Topos Czernowitz/Bukowina, Kenneth Koch klärt darüber auf, daß die Sprache der Lyrik sich von der Alltagssprache unterscheidet, und Michael Rutschky hat ein paar Lyrikbände neueren Datums gelesen, worüber er Auskunft gibt. Einzig Jörg Drews unternimmt den Versuch, den Status quo deutscher Gegenwartslyrik zu fassen. Er spricht gar von der "neuen Unersetzlichkeit der Lyrik". Nach einer Phase der Stagnation in den 70er und frühen 80er Jahren seien Gedichte heute wieder interessante ästhetische Objekte. Viele jüngere Autoren (Beyer etwa oder Czernin) haben Drews zufolge die experimentelle Literatur verarbeitet und können jetzt darauf aufbauen. Das wäre nun zweifellos ein Maßstab: hinter die Standards der Nachkriegsavantgarde nicht zurückzufallen, ohne die formalen Spiele, die leerzulaufen drohen, weiterzuführen. Aber Drews weicht dieses Kriterium zu sehr auf, schließt sich der Gernhardt-Begeisterung an, und meint auch noch eine alternative, im Zeichen des Kalauers stehende Linie von Dieter Roth ausgerechnet zu Bert Papenfuß ziehen zu müssen. Überlegungen zu den Begriffen "Innovation" und "ästhetische Radikalität" fordert er in seinem Essay nur.

Finden wir bei Sartorius eine Antwort? Seine Minima Poetica, zum größten Teil Zweitverwertung einer Artikelserie der Frankfurter Rundschau, tragen immerhin den Untertitel "für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts". 16 Lyriker aus aller Welt waren gehalten, ein eigenes und ein fremdes Gedicht auszuwählen, sowie einen "poetologischen Essay" zu verfassen. Wer sich Auskünfte über die Problematik heutigen Schreibens, den Stand der Dinge in der Lyrik erwartet, der wird aber bitter enttäuscht. Zu begrifflich-argumentativer Anstrengung sind die Dichter nicht willens oder in der Lage, in einer lauwarm-poetisierenden Sprache wird der Gegenstand in den meisten Texten bloß mystifiziert. Für Sartorius ist das Gedicht eine "absolute Metapher für einen Weltmoment" oder schlicht "das Andere", für Abdelwahab Meddeb ist der Dichter der "Wächter des Seins" und José Angel Valente sieht im Gedicht den "Ort der absoluten Innerlichkeit". Olga Sedakowa beklagt sich über den Verlust eines "Zentrums" und ruft Heidegger an. Das Gedicht ist "seit langem ein Fremder in der Welt", klagt Yang Lian, während Raoul Schrott mit der erstaunlich simplen These antritt, daß die Metapher Grundlage der Dichtung sei.

Resigniert schlagen wir die Minima Poetica zu und erinnern uns an Theodor W. Adorno, auf dessen Minima Moralia in dem Buchtitel ja angespielt werden soll. In seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft meinte dieser 1957: "Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer ans Sein. Wo das Ich in der Sprache sich vergißt, ist es doch ganz gegenwärtig; sonst verfiele die Sprache als geweihtes Abrakadabra ebenso der Verdinglichung wie in der kommunikativen Rede."

Florian Neuner

Karl Heinz Bohrer / Kurt Scheel (Hg.): Lyrik. Über Lyrik (Merkur-Sonderheft Nr. 600). Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 30 DM

Joachim Sartorius (Hg.): Minima Poetica. Für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 38 DM

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