Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Politische Musik für die Massen

Wie kann politische Widerständigkeit in einem kommerziellen Apparat wie der Musikbranche glaubwürdig sein? Zwei Konzepte.

Silence=Death war die Losung der Aktivisten aus dem Act-Up-Umfeld, die sich gegen die verschärfende Aids-Krise Anfang der 90er richtete. Es ging um Aufklärung und politische Einflußnahme innerhalb einer ignoranten Gesundheitspolitik.

Zu den Erfolgen der Act-Up-Kampagne gesellten sich schnell unangenehme Nebengeräusche. Terrre Thaemlitz, selbst Aktivist in der Transsexuellen-Szene, sampelt auf seiner CD "Love For Sale" Ausschnitte aus TV-Sendungen, die die Gay-Pride-Parade in San Francisco kommentieren. Jingles von Sponsoren überlagern sich mit Angaben der Kommentatoren über die Kosten eines Kostüms oder eines geschmückten Wagens und darüber, welchem großzügigen Unternehmen das Geld zu verdanken ist. Form - lustiger Umzug - und ursprünglicher Inhalt - Diskriminierung - werden strikt voneinander getrennt. Auf diese Art verschwindet der gesellschaftskritische Ansatz hinter der Kommerzialisierung schwuler Kultur.

Das zweite Stück auf "Love For Sale" thematisiert die Schließung diverser Clubs dieser Szene in der 42. Straße in New York, wo sich Disney mit Immobilieneinkäufen engagierte und auf die Schließung der Clubs und Discos drängte. Hier zeigen sich die Grenzen einer Spaß- und Freizeitkultur, die sich zu gegebenen Anlässen liberal und tolerant gibt, ansonsten aber auf Null-Toleranz und störungsfreies Funktionieren setzt.

Musikalisch faßt Thaemlitz diese Verwicklungen zwischen Kapital und (Sub-)Kultur in elektronische Ambient- und Samplewelten. Musik, die Androgynität und Anti-Star-Impetus, Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeiten mit sich bringt.

Entscheidend für Thaemlitz ist, daß er mit seiner Musik trotz jener Vieldeutigkeiten einen konkreten Kontext benennt, um sich so vor Beliebigkeit zu schützen.

Dem Problem der Interpretation stellen sich Atari Teenage Riot frontal: "Hetzjagd auf Nazis" ist ebenso unmißverständlich wie "Death of a President DIY". Das ist natürlich das genaue Gegenteil von Vieldeutigkeit und Differenziertheit. Und auch von der Musik behauptet Alec Empire, sie sei per se antifaschistisch und es sei nicht vorstellbar, daß diese Art von elektronischem, gitarrenorientiertem Lärm von Faschobands aufgenommen und verwertet wird. Das sei erst einmal dahingestellt. Innerhalb einer Technoszene, die inzwischen uneinholbar im Reich der Dumpfseligkeit (Love Parade u.ä.) angekommen ist, stellt sich diese Musik in ihrer Sperrigkeit vor jede massenmediale Vermarktbarkeit. Hinter den Parolen von Atari Teenage Riot also nur ein Verkaufskonzept zu vermuten, ist daher müßig. Im Vergleich zu anderen, sich gleichfalls politisch verstehenden Bands, sind sie denn auch wegen ihrer Texte (noch) nicht MTV-kompatibel.

Beiden Konzepten gemeinsam ist daher der ernstgemeinte Versuch, nach Alternativen innerhalb der musikalischen Verwertungsmaschinerie zu suchen. Welche Strategie auf Dauer effektiver, zersetzender, mobilisierender und letztlich auch glaubwürdiger sein kann, wird sich zeigen.

Marcus Peter

Terrre Thaemlitz: Love For Sale (Mille Plateaux)
AAtari Teenage Riot: 60 Seconds Wipeout (DHR/PIAS/Connected)

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