Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
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Der Traum vom Frieden

Oder: Die guten Nachrichten kommen nicht aus dem Fernsehen

Berlin, Donnerstag, 10. Juni, 13 Uhr 16, AP meldet: "Stopp der Luftangriffe steht offenbar unmittelbar bevor." Das klingt wie eine gute Nachricht. Elf Wochen nachdem der Krieg begonnen hat, wird es Zeit, dass er zuende geht. Die Mediensysteme und die durch sie geschulte Wahrnehmung der Medienkonsumenten vertragen einen lang anhaltenden Ausnahmezustand nicht. Die Karikaturen, die nach vier Wochen Krieg auftauchten und forderten, dass langsam der Bodenkrieg losgehen könne, weil es sonst langweilig werden würde, bargen wie jeder Zynismus einen Gutteil Wahrheit. Wollte man die Grausamkeit des Krieges vor dem medialen Verzehr schützen (weil sie als grundsätzliche Erfahrung jeder Generation zu empfehlen ist, und sei es nur, dass man den Frieden, in dem man lebt, wieder neu schätzen lernt), man müßte die Berichterstattung über den Krieg verbieten, weil sie so gar nichts davon vermittelt, was tatsächlich vor sich geht. Die täglichen politischen Manöver, die abstrakten, wertegebundenen Streitereien, das Entsetzen, die Entrüstung, selbst das überdeutliche Sichtbarwerden der Ost-West-Spaltung erzählten nichts vom Krieg, sondern nur von den selbstgerechten Verstrickungen einer Gesellschaft, die im Frieden lebt und damit nichts anzufangen weiß.

Ist das noch Kunst?

Auf der Ausstellung über junge Kunst, die im Mai im Postfuhramt stattgefunden hat, war ein weißer, geschlossener Zylinder zu sehen, der den Blicken nur einen Arm freigab. Der Arm wirkte isoliert, wesenlos. Man musste sich kurz daran erinnern, das sich am Arm (in aller Regel) ein Mensch befindet. Der Arm sah seltsam genug aus. Hässliche Narben reihten sich wie Kerben übereinander und aus der frischesten Kerbe floss noch Blut. Auf einmal war der Schmerz sehr nahe, ungestillt, lebendig und durchdringend. Die Reaktionen der Besucher ähnelten sich. Sie schauten mehrmals hin. Einmal: Was ist das denn? Zweimal: Ist das ein Arm? Dreimal: Ist das Blut? Mit dem dritten Hinsehen stellte sich die Gewissheit und Entsetzen ein. Die meisten wandten sich mit Ekel ab und ihre Gesichter schrien stumm das entrüstete Fragezeichen hinter die alles entscheidende Frage: Ist das noch Kunst? Und im Weggehen antworteten sie kopfschüttelnd selbst: Nein, das ist keine Kunst, das ist barbarisch.

Auf derselben Ausstellung gab es eine andere Arbeit in Anwesenheit der Künstlerin. Ein verdunkelter Raum zeigte eine Trauminstallation. Der Künstler/die Künstlerin? lag in einem weißen Laken und schlief. Über zwei Monitore liefen zwei kurze Erzählungen, die den Übergang vom Wach- zum Traumzustand beschreiben. Die eine Geschichte geht so: "Als mir heute auf der Straße jemand einen Tagesspiegel schenkte, berührten mich die Nachrichten so, dass ich zuhause alle Fernsehnachrichten auf allen Kanälen solange guckte, bis ich schließlich glaubte, etwas zu wissen. Dann, als mir alles absurd vor kam, fiel ich in Schlaf. Im Schlaf drückte Ronald Reagan auf den roten Knopf und ich spürte, man kann nichts machen." Über dem Bett leuchtete die Frage: "Vielleicht sollte ich aufwachen und pinkeln gehen, vielleicht auch nicht..." Als letztes Element befand sich ein Pissoir im Zimmer, aus dem ein heller Schein fiel.

Lange nicht mehr ist Kunst so einfach und erhellend gewesen. Man konnte durch den Raum schnell durchgehen, kurz an den Monitoren hängen bleiben. Manchen nahmen nicht einmal wahr, dass da jemand leibhaftig liegt und schläft. Man konnte sich auch auf eine Bank setzen und den Verbindungen der Installation folgen, die einen tragischen Zirkel der Ergebenheit bildeten. Aber in der tragischen Ohnmacht des Schlafenden lag eine ungewöhnliche Kraft. Die zur Schau gestellte Hilflosigkeit in dem fein durchdachten und atmosphärisch ausbalancierten Ensemble zeugte vom tieferen Verständnis eines allgemeinen Zustandes, den man als Wachalptraum bezeichnen kann. "I do understand what I can´t really accept", so der Titel der Installation, meint, dass das aufgeklärte Dasein nicht ausreicht, um das Böse in der Welt zu verhindern. Die Wirklichkeit bedrängt die Träume.

Ein unangenehmer Zustand, vor allem wenn man am Ende gar nicht mehr weiß, ob die Wirklichkeit alptraumartig oder die Alpträume Wirklichkeit geworden sind. Trotzdem steckt in dieser Installation all das, was dem Gespräch zwischen Tagesschau, Zeitungslektüre und Kneipengespräch gemeinhin fehlt. Sie macht das Tragische anfühlbar und erlebbar. Man hat die Möglichkeit, zu begreifen, unabhängig davon, für welche Seite man sich entscheidet und welche Interessen man vertritt.

Schöne Orte

Orte, die diese Art von Begreifen möglich machen, sind Orte, die außerhalb einer funktionsmäßigen Ordnung stehen. Museen, Kirchen, Denkstätten, Theater, Bibliotheken, Parks, Schwimmbäder sind solche Orte. Welchem Grund folgt man, wenn man in den Park oder ins Theater geht? Man befindet sich im Ausnahmezustand von den täglichen Verrichtungen (wenn man nicht einen Hund oder ein Kind hat, mit dem man täglich in den Park geht oder wenn man nicht am Theater arbeitet). Man begegnet dem Zufall. Man entspannt sich, man träumt und sucht darin eine guttuende Zerstreuung. Man hofft auf einen sich weitenden Moment. Man spielt oder denkt nach oder beobachtet. Man ist da und lässt wirken. Man öffnet sich dem Augenblick und seiner besonderen Erfahrung.

Der Zweck der Friedens

Als Frank Castorf mit den Proben zu Dostojewskis Dämonen anfing, brach ein paar Tage später der Krieg aus. Jetzt dröhnen ab und zu ohrenbetäubende Tieffluggeräusche durch die Aufführung. Nur für einen Moment, dann geht das Spiel auf der Bühne weiter. Das Schauspiel selbst ist zum langen Fan-Abend geraten. Ein gewaltiger, ausufernder, grundloser, langer Abend mit allen Volksbühnenstars, die sich trotzig und gut gelaunt gegen die falschen Nachrichten zur Wehr setzen.

Man muß schon einige Ausdauer mitbringen, wenn man in die Strudel der Zerstreuung, der politischen Intrige und privaten Verstrickung, wenn man in das Bild von einer nicht besseren, aber herzhafteren, musikalischeren und vielfältigeren Welt eintauchen will. Man sieht auf den ersten Blick nicht, wie sehr diese Inszenierung eine dankenswerte Reaktion auf den Kriegszustand ist.

Über vier Stunden im Theater, das ist immer ein Ausnahmezustand. Und es braucht einen solchen Zustand, um dem Wesen des Krieges zu begegnen. Hannah Arendt hat geschrieben: "Der Zweck des Krieges ist der Friede; aber auf die Frage: Und was ist der Zweck des Friedens? gibt es keine Antwort". Aber da irrt sie. Der Zweck des Friedens ist das Spiel, die Zerstreuung und die Kunst. Der Frieden ist die Zeit zu träumen. Der Traum ist, dass man Krieg spielen könnte, so dass jeder wissen kann, was es damit auf sich hat und niemand ihn mehr braucht. Wer sich die Zeit für diesen Traum nicht nimmt, der wird weder Krieg noch Frieden seinem Wesen nach begreifen.

Felix Herbst

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