Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
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Zwischen Theologie und Prostitution

Mit der Maxime "Geld verdienen, sehr viel sogar" startet bald eine kommerzielle Telefonseelsorge

"0190-... Ruf jetzt an. Du triffst Männer und Frauen aus Deiner Stadt. Selbstverständlich nur Profis. Sie sind rund um die Uhr für Dich da. Was auch immer Du brauchst: Rufe gleich 0190-... Du mußt nicht einmal achtzehn Jahre alt sein... " Nie mehr in der telefonischen Warteschlange hängen, nie mehr mit Bandansagen abgespeist werden. Die Wünsche scheinen bald in Erfüllung zu gehen.

Wer jetzt an große Ohren und harte Fakten denkt, liegt richtig. Doch mit Sex hat das alles nichts zu tun. Es geht um das, was in der Hose ist - das Portemonnaie. Am 5. Juli soll in Berlin die Probephase der ersten kommerziellen Telefonberatung starten. Für 2,42 bis 3,63 Mark pro Minute soll man sich Rat holen können bei persönlichen Problemen und Konflikten in allen Lebenslagen.

Betreiber ist die Santé Human Systems & Engineering GmbH & Co. KG, eine Schweizer Holding mit Beteiligung von Medienmogul Kirch. Doch keine Sorge, weder Manager noch Pro7-Redakteure sitzen als Berater bei Einsamkeit und Partnerproblemen am Telefon. Via Arbeitsamt wurden Gruppen zu je 80 Sozialarbeitern, Psychologen und Diplompädagogen zum etwas anderen Vorstellungsgespräch geladen. Das Westin Grand Hotel schien gerade so geeignet zu sein. In der Friedrichstraße ging es über drei Stunden zur Sache. "Wir sind keine Sekte", mußte die Leiterin fürs Fachliche, Frau Dr. Bovier, gleich zu Beginn ein Mißverständnis ausräumen.

Und man wolle um Himmels Willen der Telefonseelsorge keine Konkurrenz machen. Außerdem sei da ständig besetzt, fügt Andreas Deckert hinzu. Der organisatorische Leiter mit der gelben Krawatte hatte ein paarmal erfolglos die kostenlose Nummer gewählt und sagte sich dann: "Das muß ich selber machen. Eine Dienstleistung muß rund sein. Sie muß funktionieren, wenn sie gebraucht wird." Dafür sollen in der Startphase bis 30, später 50 bis 60 Mitarbeiter rund um die Uhr an der Strippe hängen. Den bundesweiten Ausbau will er in zwei Jahren, den europaweiten bis 2005 abgeschlossen haben. Natürlich möchte man der erste und zugleich beste Anbieter auf dem Markt sein. Doch gegenwärtig hapert es noch etwas: Der Personalleiter warf das Handtuch, und es gibt weit weniger Bewerbungen als zu besetzende Stellen.

Info-Vorstellungen dieser Art wecken Bedenken. Ist das, was aufgebaut werden soll, politisch korrekt? Verträgt sich ein Preis von schlappen 200 Mark für eine Stunde anonymer Telefonberatung, zum Beispiel bei Schuldenproblemen, mit dem Berufsethos des helfenden Standes? Einige Anwesende verließen bei derartigen Zahlenspielereien schlagartig das Grand Hotel. Weitere folgten bei der Ankündigung, daß zehn bis 20 unbezahlte Überstunden pro Woche normal seien. Die Übriggebliebenen wurden "belohnt" mit einer kurzen Ansprache des Ideengebers und selbsttitulierten "Schattenmannes" Herrn Bayreuther. Mit markigen Worten beschreibt der 30jährige seine Motivation für den Einstieg in diesen sensiblen Bereich. "Ich will Geld verdienen. Sehr viel sogar." Dazu schnittiger Gestus: "Immer cool bleiben. Vertrauen Sie uns in jeder Hinsicht. Sie werden irgendwann zur Arbeit kommen, weil sie geil drauf sind, bei Santé zu arbeiten."

Welten prallen aufeinander. Krawatte trifft Müsli-Outfit. Commerce meets social work. Beratung wird zur Schnittmenge von Theologie und Prostitution. Die Werbung in Rundfunk und Fernsehen läuft bald an. Und vielleicht verwählt sich ja der eine oder andere im Dschungel der 0190er auf der Suche nach der heißen Leitung. Geil.

Und die kostenlose Telefonseelsorge wird weiterhin stets besetzt bleiben.

Holger Klemm

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