Ausgabe 06 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1899

17. Juni bis 14. Juli

Dampferfahrten mit Musikbegleitung dürfen nur nach eingeholter polizeilicher Erlaubnis stattfinden. Diese Genehmigung muss mindestens sechs Tage vor der beabsichtigten Partie beim Polizei-Schifffahrtsbureau, Propststraße 8, schriftlich beantragt werden. In dem Antrag sind Tag, Stunde und Ort der Abfahrt des Dampfers, der Name des Schiffes und des Eigentümers anzugeben sowie 1 Mark 50 in bar beizufügen. An Sonn- und Feiertagen darf unter allen Umständen erst nach 12 Uhr mittags mit der Musik begonnen werden.

Lehrer für Deutsch-Südwestafrika werden gesucht. Die Kolonialbteilung des Auswärtigen Amtes sucht für die in Windhoek und Gibeon in Deutsch-Südwestafrika demnächt zu errichtenden deutschen Schulen je einen Lehrer. Die Reflectanten erhalten freie Aus- und Heimreise, entsprechende Ausrüstungsgelder und außer einem Jahresgehalt von 5 000 Mk. in Windhoek und 4 000 in Gibeon vollständig freie Wohnung. Sie dürfen nicht jünger als 24 und nicht älter als 30 Jahre sein, müssen die holländische Sprache beherrschen und sich auf 3 1/2 Jahre nach Afrika verpflichten. Verheiratete Lehrer werden bevorzugt.

Die Abholzung der Schönhauser Haide bei Nieder-Schönhausen, auf der eine Villenkolonie entstehen soll, fordert Opfer. Der 55jährige Arbeiter Roß, der von einem fallenden Baum getroffen und mit einem Schädelbruch in ein Krankenhaus nach Berlin gebracht worden war, stirbt hier. Das erste Opfer war der 62jährige Zimmermann Karl Bartuch aus Zepernick, dem der Ast eines umstürzenden Baumes mehrere Rippen und das Rückgrat zerschmetterte. Auch von einem dritten Fall wird berichtet, ein Arbeiter starb nach einem Schädelbruch sofort.

Ein großes Zigeunerbegräbnis findet am 19. Juni in Neuendorf bei Potsdam statt. Der 65jährige Zigeunerhauptmann Bursovivar, Mitglied der aus dem Elsass stammenden Petermannschen Bande, starb plötzlich auf der Durchreise. Die Angehörigen kauften daraufhin in Potsdam für 240 Mark einen Zink sarg, viele Trauerkleider und prächtige Blumen. Seit dem 17. Juni steht der Sarg mit der offen daliegenden Leiche im Garten des Kerkowschen Lokals. Der Tote ist mit einer weißen seidenen Decke bedeckt, die Witwe hält dabei permanent die Totenwache. Die Mitglieder der Zigeunerbande machen durch den Zulauf ein großartiges Geschäft, denn es werden für den Zutritt zur Leiche 10 Pfennig Eintritt erhoben.

Dem Verstorbenen ist Tinte, Feder und Papier mit in den Sarg gegeben, damit er, so er will, Nachricht von sich geben kann, sowie ein Portmonee mit Geld. Das Gesicht des Toten bedeckt ein gelber Schleier, seine Füße stecken in hohen gelben Stiefeln. Die Zigeuner haben zur Ehre ihres Häuptlings viel Pomp aufgeboten, während sie selber in zerrissenen Kleidern dem Leichenwagen erster Klasse folgen.

Ein Musikcorps eröffnet den Leichenzug, dann folgen in vollem Ornat der Pfarrer Jende aus Potsdam, und mit Kruzifix der Messner mit den Chorknaben. Hinter dem Leichenwagen, der keinen Kranzschmuck aufweist, schreiten heulend und schreiend die Zigeuner. Die Töchter des Verstorbenen haben sich zum Zeichen ihres Leids die Gesichter blutig gekratzt. Auf dem Kirchhof, der durch Gendarmen abgesperrt ist, hält der Pfarrer an der ausgemauerten Gruft die Totenmesse. Die Zigeuner, die 2 000 Mark für die Erhaltung des Grabes bei der Ortsbehörde hinterlegt haben, müssen schon eine Stunde nach dem Begräbnis mit ihren Wagen den Ort verlassen.

Auf dem Kurfürstendamm führt ein Kutscher am 20. Juni seine nicht besetzte Equipage, als plötzlich die Pferde vor einem Zug der Dampfstraßenbahn scheu werden und durchgehen. Im selben Augenblick will das vierjährige Töchterchen der Eheleute Frommel den Straßendamm überqueren, kommt aber auf den Straßenbahnschienen zu Fall und unmittelbar vor den Pferden zu liegen. Da der Kutscher die Gewalt über sein Gespann verloren hat, scheint das Kind verloren.

Das sieht der auf seinem Motordreirad vorbeifahrende Kunstmaler Rinkel, der sofort die Gefahr der Situation erfasst. Blitzschnell lenkt er sein Rad auf das Kind zu, er erreicht es kurz vor den Pferden, zieht das Mädchen zu sich hoch. Dann fährt er so heftig gegen die Bordschwelle, dass das Motorrad umstürzt und das Kind und sein Retter auf das Pflaster fallen. Während das kleine Mädchen mit geringen Hautabschürfungen davonkommt, erleidet der Maler böse aussehnde Verletzungen im Gesicht und an den Händen, so dass er in einer Droschke in seine Wohnung in der Fasanenstraße gebracht werden muss.

Der Sommer beginnt am Nachmittag des 21. Juni, 16 Uhr 50. Er wird bis zum 23. September dauern.

Das Comité zur Bekämpfung der Hochbahn richtet ein Schreiben an die Stadtverordneten-Versammlung. Das Straßenbild werde durch die Hochbahn in übelster Weise verändert und die Anwohner schwer geschädigt. Besonders zu leiden hätten die Bülowpromenade und der Nollendorfplatz, die durch die projektierte Rampe geradezu ruiniert würden. Vor allem aber sei ein Bedürfnis für die Hochbahn nicht gegeben, da die elektrischen Straßenbahnen den Verkehr durchaus bewältigen könnten.

Falko Hennig

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