Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Bilderfrühling

Kunst & Comix

April: In Luzern rollt das 8. Fumetto-Festival vom (Heftchen-) Stapel, die jährliche Leistungsschau der kunstbeflissenen Comic- (oder Comix, wie der Schweizer auch im Singular sagt) und Bildgeschichten-Schaffenden. In architektonischer Hinsicht zeigt sich das Städtchen dem gequälten Berlin als schmerzlich überlegen.

Eine lebendige Comicszene gibt es hier wie da, beispielhaft ist allerdings das hohe Niveau der Fumettomacher und die Konsequenz mit der sie ihre inhaltlichen und formalen Ansprüche umsetzen.

Gaststar war Chris Ware, - sofern man als Comic-Künstler überhaupt ein Star sein kann, Schöpfer der erschreckend genialen "ACME Novelty Library" und Mann der Stunde aus Chicago. Er wurde geehrt mit Workshop und feiner Werkschau im ehemaligen Stadtgefängnis von Luzern, dem Austragungsort des Festivals.

Einige Stockwerke unter ihm entfesselten die Bildterroristen von "Le Dernier Cri" aus Marseille eine apokalyptische Bild- und Klangflut in den Gefängniszellen mit ihren Trickfilmen, Siebdrucken, Gemälden, Plastiken und Installationen. Das Ganze stellt man sich am besten als Tex Averys Auferstehung als fast cut-Zombie aus der art brut-Gruft vor.

Die Vielzahl der in Luzern anwesenden interessanten und manisch engagierten Künstler und (Kleinst-) Verleger aus aller Welt läßt das Bild einer hochvitalen Kunstszene entstehen. In der Wahrnehmung durch eine Öffentlichkeit jenseits der Insider-Ghettos stellt sie leider eine phantomhafte Größe am Rande der Nichtexistenz dar.

Wieder zurück in Berlin läßt die Lust an sprechenden Bildern nicht nach. Bleiben wir bei der Lust und setzen eine Frau davor, Frau Lust also, regelmäßigen Betrachtern dieser Publikation bereits mit ihren markanten Illustrationen ein Begriff. Daß sie ihren schwarzen Pinsel nicht nur zur Illumination von Bleiwüsten einsetzt, sondern auch alleine sprechen läßt, zeigt sie mit dem bereits zweiten Heft ihrer jährlich erscheinenden Comic-Serie zur Vertreibung hartnäckiger Wintergeister. "Springclubbing" heißt der Nachfolger des längst vergriffenen "Springpoem" . Wieder macht sich die Erdgöttin auf, um sich ihren Liebesgott diesmal in der Gestalt eines Türstehers zu suchen. Der orgiastische Geschlechtsakt nimmt geradezu kosmische Dimensionen an, das Frühlingsritual muß als gelungen betrachtet werden. Die einfache Geschichte kommt (fast) ohne Text aus und lebt vom graphischen Einfallsreichtum der Zeichnerin und der Überzeugungskraft ihrer kraftvoll-dynamischen, gleichzeitig subtilen Pinselführung. Einen entgrenzteren Orgasmus hat die Comicwelt seit Lorenzo Mattottis "Mann am Fenster" und Dave McKeans "Cages" nicht mehr gesehen (Wobei Letzterem dabei allerdings graphisches Overacting vorgeworfen werden muß...).

Der einzige Wermutstropfen trifft eingefleischte Melancholiker wie den Autor dieser Zeilen, bei denen soviel reines Glück heftige Koliken hervorruft und die sich deshalb von der Künstlerin recht bald eine tragikomische Erzählung voll niederträchtiger Bosheit wünschen, gemäß der mephistophelischen Formel, daß der böse Wille stets das Gute schafft, aus der Galle des Misanthropen die Menschen liebe gedeiht (haha!).

Kai Pfeiffer

"Springclubbing" von Ulli Lust , mit zwei verschiedenen (siebgedruckten) Titelblättern in Comicläden sowie ausgewählten Buchhandlungen

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  Ausgabe 05 - 1999