Ausgabe 05 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Hamburger Musik für die Massen / Suomen musiikki joukoille

Die Sterne: Wo ist hier (Epic/L´Age d´Or)
Die Frage "Wo ist hier?" ist schwer zu beantworten. Die Sterne sind auf ihrer fünften Platte textlich ständig unterwegs, so daß man schon mal die Orientierung in Raum und Zeit verlieren kann. "Alles fließt", sagt Heraklit, und so driften Die Sterne mit einem ungemeinen Groove durch´s Hier und Jetzt. "Es hat keinen Sinn zu warten, bis es besser wird - das bißchen besser wär das Warten nicht wert" - die Zeile dreht sich so locker durch das Ohr ins Hirn, daß man sie für den Rest des Tages nicht mehr loswird und auch gar nicht loswerden möchte.

Tocotronic: K.O.O.K. (Motor/L´Age d´Or)
Der Charme des jugendlichen Dilettantismus ließ sich nicht ewig aufrecht erhalten. Tocotronic haben mit "K.O.O.K." (Knock-out, okay) eine Platte gemacht, die sich von ihren ersten vier Alben tatsächlich unterscheidet. Schnelle, rotzige Haßlieder auf Punkbasis gibt´s nicht mehr, statt dessen herrschen schwere, getragene und gefühlvolle Stücke vor, die oft an die frühen Cure erinnern. Die simple Abfolge von Strophe-Refrain-Strophe wurde meist aufgegeben - das Ende von Tocotronics Lagerfeuerkompatibilität. Ob der Wechsel in die Ernsthaftigkeit gelungen ist, dürfte umstritten sein. Daß Dirk von Lowtzow immer noch nicht besser singen kann, es aber trotzdem tut, ist allerdings sympathisch. Unverzeihlich ist aber die geklaute grauenhaft Fanfare aus "The Final Countdown", die in die Single "Let There Be Rock" eingebaut wurde - das tut leider sehr weh.


Finnischer Tango - Tule tanssimaan (Trikont/Indigo)
Der Tango kam in den zehner Jahren aus Argentinien über Paris nach Finnland und nahm dort eine ganz eigene Entwicklung. Musikalisch vermischte sich der finnische Tango mit Elementen russischer Volksmusik und dem Rhythmus des deutschen Marsches, textlich dominiert nordische Schwermut. Der Tango hatte seine Blütezeit in den vierziger bis sechziger Jahren und war die Musik des ländlichen Finnlands. Die Texte handelten von der unvergessenen Heimat, der verlorenen Liebe oder dem unerreichbaren Märchenland. Grundsätzlich in Moll gespielt, drückte der finnische Tango eine tiefe Sentimentalität aus, die sich um die Grenze zum Kitsch nicht kümmerte. Die in den sechziger Jahren einsetzende Industrialisierung und Verstädterung Finnlands verödete ganze Landstriche und ließ die Stimmung noch depressiver werden. Vormals gefeierte Tangostars wie der Sänger Olavi Virta soffen sich reihenweise zu Tode oder erschossen sich wie der Komponist Unto Mononen. Der Tango war quasi tot, bis er in den Achtzigern langsam wiederentdeckt wurde. Der von Stephan Meier zusammengestellte Sampler enthält 24 Lieder aus den Jahren 1915 bis 1998. Dazu gehört ein hervorragendes Beiheft, das mit ethnographischer Akribie und viel Liebe die Geschichte des finnischen Tangos nachzeichnet. Gewissermaßen die schönste Platte aller Zeiten in der schönsten Sprache der Welt.

Jensi Sethimäinen

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  Ausgabe 05 - 1999