Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
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So weit die Füße tragen

Über Rundumgrün und Gehwegnasen: Einblicke in den Alltag eines Fußgängers

Wenn man als Fußgänger den Place de la Concorde in Paris überqueren will, braucht man nur den Fuß auf die Fahrbahn zu setzen, und schon kommt man zwischen dem tosenden Autoverkehr unbeschadet an die andere Straßenseite", so launig gibt der langjährige Paris-Korrespondent Ulrich Wickert seine Erfahrungen preis auf die Frage, wie man denn ganz weltstädtisch die großen Straßen überquert. Ob' stimmt, sei dahingestellt.

Um das heroische Bild richtig würdigen zu können, sei hinzugefügt, daß im Vergleich dazu der große Stern in Berlin eher zu den verkehrsberuhigten Zonen gehören würde und Wickert mit der siegermäßigen Größe von cirka 2 Metern durch die Gegend läuft. So ist man natürlich auch den dicksten Lkw nahezu ebenbürtig.

Neidisch könnte man da werden, wenn man mal wieder in Berlin an einer vierspurigen Straße steht und es als Fußgänger gerade bis zum Mittelstreifen schafft, weil man nicht zu den Sprintern gehört. Die gegenüberliegende Ampel schaltet schon wieder auf Rot, kaum hat man zwei Meter zurückgelegt. Auf der Straßenmitte drängt sich dann die Schar der "Fußlahmen" schutzbedürftig aneinander, weil vorne und hinten der Verkehr vorbeirauscht. Im zweiten wortwörtlichen Anlauf ist man dann endlich am Ziel.

Optimierung für wen?

Allgemein kann man feststellen, daß sich die Ampelschaltung zu den Hauptverkehrszeiten verschlechtert hat: die Wartezeiten für die Füßgänger sind länger geworden und die Überquerungszeiten kürzer. Im Fachjargon der gängigen Verkehrsplanung heißt das "Leistungsfähigkeit der Knotenpunkte optimieren". Wobei die Optimierung die "Leichtigkeit und Flüssigkeit" des motorisierten Verkehrs meint. Karl-Heinz Ludewig vom "Fußgängerschutzverein Fuss e.V." führt diese Veränderung auf den Wahlkampf von 1995 zurück: "Die CDU war mit dem Wahlkampfslogan 'Stauauflösung' angetreten, und nach gewonnener Wahl ist eine neue zehnköpfige Arbeitsgruppe gebildet worden, die die Ampeln für den Autoverkehr optimiert hat." Allerdings läßt sich diese Veränderung kaum nachweisen, weil an die entsprechenden Unterlagen der Verwaltung nicht ranzukommen ist. Und wer hätte schon vorausschauend eine exakte Zeitmessung 1995 vorgenommen? Allerdings ist der Leiter des zuständigen Referats bei Senatsverkehrsverwaltung, Herr Wardarkas, mittlerweile auch als "Ampelpapst" bekannt geworden.

Jein zur Ampel

Der Fuss-Verein hat 1997 im Gegenzug in einem Wettbewerb die Frage gestellt "Wie sicher kommt man über Berlins Straßen?" Rund 70, teilweise sehr aufwendig gestaltete Einsendungen von Einzelpersonen sowie Kitas und Schulen haben die bekannten Probleme ganz konkret vor Ort aufgezeigt: schlechte Ampelschaltung, fehlende Zebrastreifen und Mittelinseln. Die Beiträge sind an die Untere Verkehrsbehörde weitergeleitet worden, aber man habe "durch die Bank weg nur Ablehnung gekriegt", so Karl-Heinz Ludewig. Wie schleppend die Umsetzung erfolgt, läßt sich schon daran ablesen, daß in Berlin 250 Ampeln angeordnet sind, aber pro Jahr nur 30 Stück realisiert werden können. Wobei der Fuss-Verein nicht zu den Ampelfetischisten gezählt werden möchte, da "schlecht geschaltete Ampeln Unfallquellen sind. Wir plädieren für Tempo-30-Zonen, auch an bebauten Hauptverkehrsstraßen, außerdem für mehr Überquerungshilfen wie Gehwegnasen, Mittelinseln und Zabrastreifen. Europäische Studien haben gezeigt, je mehr Überquerungshilfen es gibt, - so alle 100-150 Meter-, desto weniger Unfälle passieren." Ein weiterer Vorteil dieser Anlagen ist, daß sie billiger einzurichten sind.

99 Prozent sind fast alle

Vergleicht man den 1985 gegründeten Fuss-Verein mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrradclub ADFC, wird deutlich, daß der Füßgänger im Straßenverkehr immer noch eine vergleichsweise geringe Lobby hat. Während in den letzten Jahren das Fahrrad nicht mehr als Armentransportmittel gilt, sondern im Ansehen steigt (wobei bestimmte Fahrräder schon wegen des Preises wieder zum Statussymbol werden), läuft der Fußgänger eher geduldet mit, wenn er nicht gleich ganz stört. "Dabei sind 99 Prozent aller Menschen Fußgänger", wie Karl-Heinz Ludewig nicht ganz überraschen feststellt, "aber nur die wenigstens fühlen sich so." Außerdem wünscht man sich selbsbewußtere Fußgänger, "die nicht dem Auto den Vortritt lassen oder über die Ampel sogar laufen, nur weil sie denken, oh, der sitzt im Auto, der hat es bestimmt eilig."

Der Kunde kommt zu Fuß

Um die Alternativen zum Auto auch wirklich als attraktiv zu empfinden, hat man jetzt das Projekt "Der Kunde kommt zu Fuß" gestartet. Denkt man zuerst, hier ginge es ums Einkaufen, steht bei dieser Untersuchung die Erreichbarkeit der Straßenbahn im Vordergrund. Anlaß war die Inbetriebnahme der Straßenbahn im Wedding, wo es gleich in der ersten Woche zu einem tödlichen Unfall kam. Um hier überhaupt zur Straßenbahn zu gelangen, muß der Fußgänger sich zunächst erneut dem Autoverkehr unterordnen: die Grüne Welle auf der See- und Osloer Straße hat Vorrang. Der Versuch, durch sensuchtsvolles Blicken den Straßenbahnfahrer zum längeren Halt zu bewegen, während man noch an der roten Ampel wartet, ist meist vergebliche Liebesmüh: Die ist sowieso weg. Gäbe es eine sogenannte "Zeitinsel", in der alle Straßenbahnbenutzer ein- und aussteigen könnten, ginge alles konfliktfreier und zügiger vonstatten. Statt dessen werden die Fahrgäste auf der Mittelinsel zwischen Gitter eingepfercht und müssen auf ihr Grünzeichen warten. Besonders eindrucksvoll läßt sich dieser Mißstand zur Zeit auch an der Friedrich-/Ecke Oranienburger Straße beobachten. Wenn Straßenbahn und U-Bahn gleichzeitig ankommen, quellen die Leute förmlich auf die Straße über. Und klettern über die Gitter, weil sie keine andere Wahl haben.

Rundumgrün

Mittlerweile hat man im mühsamen Unterfangen, eine Bewußtseinsänderung zu erreichen, auch kleine Lichtblicke zu verzeichnen: Der erste Modellversuch für "Rundumgrün" wird mit höchster Billigung gestartet. Rundumgrün heißt, daß es keinen Links- und Rechtsabbiegerverkehr bei gleichzeitiger grüner Ampel für Fußgänger gibt. Für alle Fußgänger ist grün - und für alle Autos ist rot. "Seit 1992 waren wir da am Bohren", so Karl-Heinz Ludewig, der diesen Erfolg auf seine Fahne schreibt, "jetzt endlich wird entweder in Mitte an der Friedrich-/Ecke Französische Straße oder Friedrich-/Ecke Kochstraße oder aber in Neukölln an der Donau-/ Ecke Fuldastraße das erste Berliner Rundumgrün geschaltet." Man darf gespannt sein, ob es tatsächlich an der Friedrichstraße ausprobiert oder bald schon wieder sang- und klanglos zu den Akten gelegt wird, ohne das es wirklich ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen ist.

In der Zukunft will der Fuss-Verein sich unter auch um autofreie Plätze bemühen. Was vor Jahren schon beim Bebelplatz geklappt hat - da verschwanden dann die parkenden Autos - wird jetzt für andere Berliner Stadtplätze geprüft, deren einzige Funktion darin besteht, als Autoabstellplatz zu dienen. Der Lehniner und der Stuttgarter Platz wären da mögliche Projekte. Daß das bei den Autobesitzern kaum auf Gegenliebe stoßen wird, ist klar, aber als Vision wird man es sich doch mal vorstellen dürfen, nur so zum Spaß.
sas

FUSS e.V. Landesgruppe Berlin, über die Bundesgeschäftsstelle, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin-Wedding, 5 Min. Fußweg U-Osloer Str., fon 492 74 73 (11-16 Uhr), fax 492 79 72. Nähere Informationen und Mitgliedsunterlagen erhält man dort. Die Gruppe trifft sich dort am 1. und 3. Montag im Monat ab 17 Uhr. Außerdem beherbergt man ein umfangreiches Archiv zu Verkehr und Umwelt, aus dem man gern das Wissen weitergibt.

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