Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1899

22. April bis 19. Mai

Eine Polizeiverordnung, die vorschreibt, dass Schilder und Inschriften vor ihrer Anbringung der Polizeibehörde zur Genehmigung vorzulegen sind, ist rechtsgültig, da eine solche Vorschrift sich im Rahmen der Befugnisse hält, die das Gesetz vom 11. März 1850 und ¤ 10 ALR. II 17 den polizeilichen Verordnungsrecht vorschreibt. Dagegen ist die weitere Bestimmung, dass Schilder und Inschriften auf Anordnung der Polizeibehörde entfernt werden müssen, nicht rechtsgültig. Der Polizeibehörde steht es nicht zu, den Inhalt der Schilder in Bezug auf die Rechtschreibung zu prüfen, da ihr diese Befugnis weder durch ¤ 10 A. L.-R. II 17 noch durch ¤ 6 a - i des Gesetzes vom 11. März 1850 gewährt wird. Die Rechtschreibung betrifft nicht die unter ¤ 6 b hervorgehobene Ordnung, Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Auch offenbar sprachwidrige Unrichtigkeiten können zwar die Aufmerksamkeit des Publikums erregen, dadurch ist aber nicht die Ordnung des Verkehrs gefährdet.

Musikanten und ihre Sympathisanten waren es, die vor einem halben Jahr darüber berieten, wie das Ding heißen sollte, das sie schaffen wollten. Ein Verein? Eine Totgeburt. Ein Club? Gott bewahre! Was also dann? Vorerst doch nur eine Stammkneipe, wo man sich in reservierten Räumen zwanglos trifft und zusieht, was weiter daraus wird. Also eine Klause? Dabei blieb es und so entstand die Musiker-Klause.

Grundidee war ein Zusammenschluss der Musiker, ähnlich dem der Bühnenkünstler, um ihre Interessen gemeinsam zu wahren und unter sich einen redlichen Kunstmarkt zu schaffen. Denn Musiker müssen sich durchsetzen mit und gegen Verleger, Impressarios, Concert-Agenten, die in aller Höflichkeit künstlerisch so manche Beschwerde verursachen.

Woldemar Sacks ist der Enthusiast hinter diesen Bestrebungen, die Bläser auf Holz und Blech, die Meister des Fidelbogens, die Sänger, Klavierspieler und gar die Kapellmeister und Componisten unter einen Hut zu bekommen. Im August letzten Jahres hatte er endlich einen kunstfreundlichen, klugen Gastwirt gefunden, der sich von der Idee der "Klause" überzeugen ließ und drei nette Hinterstuben seines Restaurants nebst einer Terrasse und Garten zur Verfügung stellte.

Erst kamen wenige, fanden das Lokal urgemütlich, tranken Helles und Dunkles, sprachen von Ernstem und Lustigem. Die Zahl der Stammgäste wuchs, bald kamen auch reife Klavierlehrerinnen und Sängerinnen, die auf edle Kunst eingeschworen waren.

Es meldeten sich auch Solisten, zu den Bescheidenen gesellten sich Künstler in großer Stellung. Alle fanden es schön und gut, unter einander zu verkehren und miteinander bekannt zu werden. Quartette fanden sich zusammen, Virtuosen fanden Begleiter, Begleiter fanden Sänger, Componisten fanden Musikanten.

Mit dem wachsenden Zulauf mehrten sich auch die Darbietungen der Klause. Alle neuen Opernauszüge wurden der Bibliothek gespendet, alle Musikzeitschriften liefen pünktlich ein, eine Büchersammlung entstand und gedieh, Broschüren, Flugschriften kamen frisch vom Drucker in die Klause, ein reichliches Rüstzeug an heiligem fünflinigem Papier.

Ein Umstand kam dem Unternehmen noch zu Hilfe: Neun Zehntel der Söhne und Töchter Frau Musikas wohnen im Berliner Westen. So haben sie es nicht weit zum Casino Nollendorfplatz in der Kleiststraße, wo die Klause ihre Unterkunft gefunden hat. Nun weiß man, wo nach den Concerten die Leute vom Bau zusammenkommen. Während sich tagsüber nur vereinzelte Gäste einfinden, füllen sich abends nach zehn die Räume mit fröhlichen Leuten. Vergnügt sitzen Frauen und Mädchen zwischen den Männern, und auf den Tischen stehen die Tassen mit Chocolade und Kaffee, die Teller mit Kuchen zwischen den mit Blume gekrönten Biergläsern.

Ein guter, fröhlicher und innerlich doch ernster Künstlergeist ist in die Zimmer gezogen. Die Wände sind mit gestifteten Bildern bedeckt: Porträts sehr und auch weniger berühmter Künstler, Karikaturen, Autogramme und andere bunte Zier. Haupttage sind Dienstag und Sonnabend, natürlich auch die Abende nach den großen Premi¸ren in der Oper oder im Concertsaal.

An einem Tisch sitzt Frau Etelka Gerster mit Musikfreundinnen zusammen. Dabei ist Heinrich Grünfeld und belebt die Runde mit liebenswürdigen Scherzreden. An einem andern Tisch sitzt Richard Strauß in vergnügter Stimmung. Professor Dr. Fleischer schlürft das Pilsener Bier und vergisst im Gespräch mit jungen Musikern die großen Musiktheorien. Außerdem kann man Professor Reinhold Herrmann, Anton Hecking, Karl Maeckens, A. van Eveyk, Eduard Behm und viele andere bekannte Künstler, Componisten und Lehrer sehen, wie den aufmerksam beobachtenden Emil Granichstaedten. Auch die amerikanische Musikerkolonie ist durch mehrere Herren und zwei reizende junge Damen vertreten. Zwischen den Tischen, überall und nirgendwo eilt der beglückte Woldemar Sacks.

Schon hat sich in Leipzig eine Musikerklause aufgetan, so wird wohl die Klausnerei bald alle deutschen Musikstädte befallen. Und dann möge sich in Jahren daraus eine tüchtige große "Genossenschaft der deutschen Musiker" mit Alters-, Witwen-Pensionen und allen sonstigen guten Dingen gleich der Bühnengenossenschaft entwickeln.
Falko Hennig

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  Ausgabe 04 - 1999