Ausgabe 03 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Jetzt noch postiger!

Neulich beim Frühstück, es regnet in Strömen, und ich muß noch zur Post. Naja, sind ja nur ein paar Meter. Im Treppenhaus fällt mir im Vorbeigehen eine Unmenge verschiedener Werbebotschaften aus meinem Briefkasten entgegen. Auf den diversen Zetteln schreit mich gleich mehrmals der Schriftzug "Neueröffnung" an. Doch bevor mein Interesse geweckt ist, habe ich den Stapel schon dem Rohstoffkreislauf übergeben und hüpfe erleichtert über die Pfützen Richtung Postamt. Der graue Himmel läßt meinen Blick auf Straßenniveau schweifen und urplötzlich springt mich ein gelber Wegweiser an. Die Regentropfen klatschen wie Sonderangebote auf mich herab, und auf dem nassen Pflaster spiegeln Markenartikel die Wunderwelt von Konsum und Glückseligkeit wieder. Verschämt drehe ich den Kopf zur Seite und schaue in die traurigen Schaufenster der alten Drogerie, die letzten Monat vor der Mietgier des Hauseigentümers und der Übermacht von Schlucker und Rotzmann kapitulierte. Gegenüber bedankt sich das Porzellangeschäft für fünfzig Jahre Kundentreue und verweist noch Richtung besagtem Einkaufszentrum.

Mit einem tiefen Seufzer nehme ich den Weg wieder auf. Doch als ich vor der schmiedeeisernen Tür des frisch renovierten Gebäudes in der Eberswalder stehe, merke ich, daß auch hier das Kapital schneller war als ich. Ein chicer Flyer macht mich auf die Schließung dieser und zwei weiterer Filialen in der Milastraße und der Bornholmer Straße hin. Überversorgung heißt die Begründung des "kundennahen Dienstleisters". Dafür verspricht dieser "jetzt noch mehr Service in einem (!) Postshop". Für P-Berg bedeutet das eine Postdichte von 1:65 000. Und so zentral gelegen, daß sowohl Mutti mit Kind und Opi mit Stock viel Gelegenheit bekommen für ausgedehnte Kiezspaziergänge.

Der Vorplatz des neuen Glanzpunktes an der Schönhauser ist überfüllt, bunte Plastiktüten mischen sich mit lustigen Luftballons. Trotzdem zieht mich mein postalisches Kommnunikationsbedürfnis mitten in die inszenierte Fröhlichkeit des security-gesicherten Centers. Durch den Mangel an ausliegenden Orientierungsplänen lasse ich mich von der ebenfalls verwirrten Masse mittreiben, einmal quer durchs Gebäude. Aber Rolltreppe hoch, Aufzug runter, nirgends die Post, statt dessen droht der ganze Trubel meine Kaufkraft zu aktivieren. Da, ganz hinten links hat er sich versteckt: der Postshop. Drinnen empfängt mich ein kühles Interieur aus Ikea-Möbeln und adrett verpackten Neonröhren - ein konsumikatives Ambiente. Die alten, biestigen Postbeamten sind zu lächelnden Kundenbetreuern mutiert und dürfen dafür sogar den Arbeitstag lang stehend Dienst tun. Das suggeriert Dynamik! Schneller geht es trotzdem nicht und billiger wurde es noch nie.

Für die Übergabe meines 35 Gramm-Briefes durfte ich 2,20 DM hinterlegen. Nebenan bestäuben mich zwei aufreizenden Douglas-Cowboys mit diversen neuen Düften. Stinkend packe ich die hippen Nützlichkeiten des In-Textilisten in die Tasche.

Nachdem ich Stunden später durch einen Seitenausgang gestopft werde, stehe ich nachdenklich an der S-Bahn und beobachte die Sonne, wie sie drüben beim Gesundbrunnen untergeht. Endlich alle gleich.


stephan eßwein


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