Ausgabe 03 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Schreibend rauchend Bier trinkend

"Ein alter Dichter" sitzt im Wirtshaus


Der gute Schriftsteller sagt nicht mehr, als er denkt.
Walter Benjamin

Gerald Bisingers Gedichte sind keine Hymnen an den Alkohol, sie handeln nicht vom Saufen, vom Rausch und seinen Nebenwirkungen. Das Wirtshaus ist ihm vielmehr der selbstverständliche Ort des Schreibens, der Einkehr und der Reflexion. Oft ist das "Franz Blauensteiners GASTHAUS ZUR STADT PARIS" in seiner Heimatstadt Wien, wo schon Heimito von Doderer saß, manchmal auch ein "dunkles Wirtshaus an der Geisbergstraße" in Berlin, wo Bisinger lange Jahre als Mitarbeiter des Literarischen Colloquiums gelebt hat, und wenn er unterwegs ist, im Zug nach Bratislava etwa, um dort billig Zigaretten einzukaufen, dann hat er auch immer sein Bier dabei. Der "alkoholische Dreiklang" (Hermann Burger) Bier-Schnaps-Wein ist der Grundakkord des jüngsten Gedichtbandes von Gerald Bisinger, dem er konsequenterweise ein Zitat von Peter Hille voranstellt: "Der Weise weihet sich dem Alkohol." Der "alte Dichter" ist ein weiser Mann.

Jeweils mit Orts- und Datumsangabe versehen, verweisen Bisingers Texte auf ganz konkrete Situationen, in ganz konkreten Wirtshäusern meistens, Protokolle des täglichen Lebens. Allein, es passiert eigentlich nichts in all den Wirtshäusern, Bahnhofslokalen und Zügen. Die Gedichte sind eine Chronik der laufenden Ereignislosigkeit, handeln allenfalls von Ereignissen, die für den Dichter von privater Bedeutung sind, etwa dem bevorstehenden 56. Geburtstag: "trink Wein Bier und Whisky rauche/esse mit Lust fettes Fleisch Inne-/reien scheiße ver-gnügt und furze/auch gern der Tod scheint mir fern/vielleicht ist das nicht recht ver-/nünftig".

Was bei Bisinger zum Gedicht wird, das erfährt keine poetische Überhöhung oder Transzendierung, das wird ganz unverhohlen in seiner Banalität und ganz direkt - wenn auch streng rhythmisiert - in die Gedichtzeilen gegossen. Gerald Bisinger - und das ist das Großartige an dieser Lyrik - schwingt sich zu nichts auf, schwingt keine großen Reden, er versucht nicht, uns die Welt zu erklären und er verbiegt die Sprache nicht metaphernverliebt. Er sagt nicht mehr, als sich sagen läßt, und das ist nun einmal so gut wie nichts. Daß Bisinger, der "alte Dichter", im Wirtshaus sitzt, ist dabei so zufällig wie folgerichtig. "Gewiß doch verdankt sich so manches Gedicht/meinen Einsamkeiten in Kneipen oder sonstwo/vor einem Glas Bier oder Wein auch im Freien/an einem Kiosk zum Beispiel", schreibt er am 9. Juli 1992 in Berlin. An diesem Nullpunkt, in der Ereignislosigkeit der Wirtshauseinsamkeiten - "trink ich/abweisend/mein Bier" - wird es interessant. Das trinkende lyrische Ich im leeren Wirtshaus ist zurückgeworfen auf sich selbst. Ins Blickfeld rückt der Alltag, der eigene Standpunkt zwischen dem Zigarettenkauf in Bratislava, Kuttelflecksuppe, Rotwein trinken und scheißen. Nicht mehr und nicht weniger. Wo nichts mehr ist als dieses Leben in seiner Banalität, dort ist das Gedicht, die Umsetzung in die literarische Form aber eine rettende Perspektive: "in SITTLS WEINHAUS ZUM GOLDENEN PELI-/KAN jetzt schreib ich am nächsten Tisch/mir genau gegenüber darauf schläft einer/vornüber gebeugt vor einem mit Weißwein/gefüllten Glas auf seinen Händen ich/halte das fest für die Nachwelt ich trin-/ke jetzt Rotwein". Die Kunst und der Alkohol, diese beiden vorerst letzten Utopien nach dem Ende des sogenannten Realsozialismus, schießen so zusammen und beleuchten sich als Metaphern wechselseitig. Die emphatische Rettung des Augenblicks, die Utopie des nächsten Glases in der nicht endensollenden Kneipennacht, ist die eine Seite; Rückzug und Flucht vor der Realität, was immer das sein soll - vielleicht der Kater am nächsten Morgen -, die andere. Es gibt wohl ein Leben außerhalb der Kneipe, nicht aber kann es dort noch Gedichte geben. Wenn man heute noch Gedichte schreiben kann, dann am ehesten dort, dann am ehesten solche lapidaren Protokolle, die nicht mehr auf die Zauberkraft der "Poesie" vertrauen, diesen Kitsch und keineswegs ungefährlichen Unfug.

Am Rande seines Blickfelds, vom düsteren Wirtshaus, wo auch an einem Sommertag mittags schon Licht brennt, weit entrückt, nimmt Bisinger die Außenwelt zur Kenntnis, etwa die Stadt Berlin, die er 1986 verlassen hat: "radikale Fremdheit jedoch/den DDR-Relikten und denen gegenüber aus/preußischer Zeit wie nie ich das kannte". Das wird nicht weiter kommentiert. Die denkwürdigeren Dinge spielen ohnehin im Wirtshaus sich ab. Der nach Jahresfrist wiederkehrende Besucher muß beispielsweise feststellen, daß die Kneipe ZUR DELFTER KACHEL in der Geisbergstraße (Schöneberg) in seiner Abwesenheit in MARIAS BIERSTÜBCHEN umbenannt wurde. Mit dem Namen ist auch ein alter Mann aus dem Lokal verschwunden. Das war 1993. Mittlerweile ist die Kneipe abermals umbenannt worden und heißt jetzt GEISBERGSTUBE. Was kann Literatur Schöneres leisten, als den metaphysisch-verheißungsvollen, auch leicht beunruhigenden Kneipennamen ZUR DELFTER KACHEL zu bewahren?


Florian Neuner

Gerald Bisinger: Ein alter Dichter. Literaturverlag Droschl, Graz 1998. DM 30.-

Nachtrag: Gerald Bisinger starb am 22. Februar. Ein bisher unveröffentlichter Gedichtband mit dem Titel "Dieser Tratsch" soll nach Ostern erscheinen.


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