Ausgabe 03 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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"Wir sind spät dran - ab durch die Mitte"

Über ein Kabarettprogramm, die alten und die neuen Verhältnisse

"Das ist ein interessantes Thema für einen Journalisten. Da müßte man mal recherchieren. Ich glaube, es war geplant, da eine Moschee hinzubauen. Jetzt sieht es immer noch ein bißchen aus wie nach dem Krieg." Die Rede ist von einer umzäunten Brache an der Ecke Wiener Strasse/Manteuffelstraße im hinteren Kreuzberg, direkt am Görlitzer Bahnhof. "Kann sein, daß sie sich nicht getraut haben, da wieder etwas hinzubauen. Aber das ist doch komisch, daß da einfach nichts passiert ist, oder?" Christoph Jungmann, Mitgründer der Kabarettgruppe Zwei Drittel, schaut mich fragend an. Wir sitzen in einem Café genau gegenüber der Brache. Ja, es ist komisch. Am 1. Mai 1987 befand sich da drüben noch der Supermarkt Bolle. Einen Tag später stiegen zwischen den zerstörten Grundmauern Rauchschwaden auf. Dazwischen lag die feurigste Party, die das Westberliner Alternativ- und Autonomenmilieu seit den frühen 80er Jahren gefeiert hat. Die massenhafte Erstürmung, die Plünderung und das Abbrennen von Bolle begründete den Mythos vom 1. Mai, der sich bis heute als sinnentleertes Ritual der Zerstörung fortgepflanzt hat. Im darauffolgenden Jahr, am 1. Mai 1988, versammelten sich 10000 Menschen hinter der Losung "Alles andere als die Revolution ist Quark". Die Revolution fand dann woanders statt.

Ein paar Meter weiter, im Mehringhof-Theater, haben Zwei Drittel soeben ihr neues Programm mit dem Titel "Macht Platz" vorgestellt. Es ist das zwölfte Programm in einer langen Reihe von Musikkabarett- und Nummernprogrammen, die vor allem ein Thema hatten: Die kritisch-humoristische Bespiegelung der Westberliner Alternativszene. Man kann die Verdienste, die sich Zwei Drittel um die Selbstaufklärung dieses Milieus erworben hat, gar nicht hoch genug einschätzen. Immer wieder kramte die Truppe in den Schmuddelecken und förderte eine Stimmungslage zutage, die sich zwischen autonomem Grössenwahn und verträumter Kiez-Idylle, einem dramatischen Verlust an Selbstwahrnehmung und allgemeiner Weltfremdheit eingependelt hatte. Jetzt, zehn Jahre nach dem Mauerfall, ist dieses Milieu zerstäubt in seine Bestandteile grüner Mittelstand, verelendetes Punkproletariat, übriggebliebene Ökos und alternative Kleinunternehmer. Im neuen Programm von Zwei Drittel ist nur noch ein Typ dieser Szene übrig geblieben, ein Kinderladenvater, der mit seinem Sohn am Potsdamer Platz für Tempo 30 demonstriert. Als der Debis-Vorstand vorbeikommt und freundlich lächelnd fragt, worum es denn geht, weicht der Vater verklemmt zurück. Sein Sohn trägt allerdings ungehemmt die vom Vater wüst formulierte Polit-Lyrik vor, was ihm, im Angesicht der Macht, einen noch größeren Schrecken einjagt. dann die Szene, wo sich Joschka Fischer in der Bundestagskantine flüsternd an Angela Merkel wendet und ihr beichtet, daß er gerne Kanzlerkandidat der CDU wäre. Solche Szenen sind wie eine Zusammenfassung der Erbärmlichkeit, die dem "grün-alternativen Projekt" mittlerweile anhaftet.

Die neuen Verhältnisse treten aber nicht nur in Maßanzügen auf. Dazu gehören auch ein türkischer Club-Boy, ein super-cooler Szene-Fotograf, die letzten beiden sesselfurzenden (aber boshaft widerständigen) Angestellten und ihr Opfer, ein hessischer Manager, neureiche Berliner Prolls und ein Bilderbuch-BVG-Schulungsleiter, der sein inneres Drama enthüllt. Unter der Regie von Johann Jakob Wurster ist ein ungewohnt schauspielähnliches Zwei-Drittel-Programm entstanden, das öfter mal auf den schnellen Lacher verzichtet, dafür aber ein spannendes und mehrdimensionales Sittengemälde entwirft. Neben Christoph Jungmann spielen Robert Munzinger und Thomas Jahn mit viel Lust und körperlicher Präzision. Es macht Spaß zuzusehen. Für ein Kabarettprogramm ist es fast schon zu reif.

In dem Café, in dem wir immer noch sitzen, gibt es zum Essen einen Espresso für eine Mark, wenn man will. Es ist spät geworden. Wir trinken den Espresso und gehen.


stefan strehler

"Macht Platz" von Zwei Drittel vom 24. März bis 10. April, immer mittwochs bis samstags, 20 Uhr, im Café Schalotte, Behaimstraße 22 in Charlottenburg, Tel. 3411485

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