Ausgabe 03 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1899

25. März bis 21. April

Der Geheimbündelei verdächtigt wird der Anarchist Oskar Löffler festgenommen. Die Polizei ist mit einer Haussuchung in seiner Wohnung in der Köpenicker Straße beschäftigt, die jedoch nur die anarchistische Zeitschrift "Neues Leben" in vielen Exemplaren zum Vorschein bringt. Da trifft Löffler ein und wird sofort verhaftet. Bei seiner Vernehmung behauptet er, sich einer strafbaren Handlung nicht schuldig gemacht zu haben.

In Berlin und Umgebung hat der Schuhmacher und mehrfach vorbestrafte Einbrecher Ludwig Aug. Papke Raubzüge unternommen. Er hat bereits eine zehnjährige Zuchthausstrafe verbüßt und wurde erst kürzlich wieder zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Zusammen mit dem Landarbeiter Joh. Ernst Eichelbaum, dem Bäckergesellen Rich. Herm. Oertel und dem Landarbeiter Paul Ceglarski, die sich ebenfalls in Haft befinden, steht Papke wegen schwerer Meuterei im Gefängnis zu Potsdam vor dem dortigen Schwurgericht.

Auch Compagnon Eichelbaum ist ein gefährlicher Dieb, der gleichfalls eine mehrjährige Zuchthausstrafe zu verbüßen hat. Die übrigen beiden Angeklagten sitzen, ebenfalls wegen Diebstahls, Gefängnisstrafen ab. Alle vier lagen im Oktober v. J. zusammen in Zelle Nr. 14 des Potsdamer Gefängnisses, aus welchem sie am 9. Oktober die Flucht bewerkstelligten, indem sie den Hilfs-Gefangenenaufseher Melenz überfielen, ihm Decken über den Kopf warfen, an Händen und Füßen banden und mit einem Messer bedrohten.

Papke war die treibende Kraft bei dem Komplott. Ceglarski erschien die Flucht wegen seiner nur 6monatigen Gefängnisstrafe nicht lohnend. Er hatte zudem die Befürchtung, dass Malenz unter den Decken ersticken könne, und kehrte deshalb wieder um, begab sich in die Zelle zurück und befreite Malenz von seinen Banden.

Oertel suchte die Wohnung seiner Eltern in Potsdam auf, die den noch jugendlichen Verbrecher sofort zum Gefängnis zurückbrachten. Eichelbaum wurde erst nach Wochen bei Wittenberg gefasst, nachdem er in Niedergörsdorf einen Einbruchdiebstahl vollführt hatte.

Papke wurde noch einige Zeit später in Nowawes dingfest gemacht. Am 11. Januar allerding machte dieser schwere Verbrecher abermals einen Fluchtversuch, indem er seine Fesseln und die Tür seiner Zelle sprengte, dann in den Lichtschacht hinabsprang, ein eisernes Gittertor zerbrach und über die Mauer des Gefängnishofes kletterte. Hierbei wurde er von dem Gefängniscastellan festgenommen.

Die Geschworenen bejahen bei Papke und Eichelbaum die Schuldfrage nach schwerer, bei den anderen Angeklagten nach einfacher Meuterei. Papke wird zu acht Jahren Zuchthaus, zehn Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht, Eichelbaum zu vier Jahren Zuchthaus, fünf Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht, Oertel und Ceglarski zu je sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

"Der Brief bei der Post", so äußerte sich einst der früher Generalpostmeister Dr. Stephan im Reichstag, "ist so sicher, wie die Bibel auf dem Altar!" Auch der Vorsitzende der zweiten Strafkammer am Landgericht II, Landgerichtsdirektor Merschwim verwendet dieses Zitat in der Verhandlung gegen den Postmarder Hermann Hartmann aus Schöneberg wegen Unterschlagung im Amt. Der Angeklagte, der sich seit Dezember in Untersuchungshaft befindet, war als Posthilfsbote in Schöneberg beschäftigt und hatte beim Rohrpostapparat Dienst.

Hier befand er sich in nächster Nähe zum Sortiertisch, auf dem sich die eingegangenen Briefe stapelten. Von diesen Briefen hat sich Hartmann soviel angeeignet, wie er bekommen konnte. Besonders hatte er es auf Briefe abgesehen, in denen er Wertsachen vermutete, also Soldatenbriefe. Im Dezember hat er nach seinem Geständnis 180 bis 200 Stück gestohlen, am 20. Dezember 80 an Soldaten adressierte Schreiben, deren Angehörige für die Feiertage Zulagen als Briefmarken beigelegt hatten.

Doch an diesem Tag erreichte den Briefmarder, auf den sich wegen der vielen Reklamationen schon längst der Verdacht gerichtet hatte, das Verhängnis. Der Angeklagte will aus den Briefen etwa 50 Mk. an Briefmarken entnommen und die Briefe dann verbrannt haben. Nicht Not hatte ihn zu seiner verbrecherischen Handlungsweise gezwungen. Er erhielt zwar nur 75 Mark monatliches Gehalt, davon gab er aber 60 Mark seiner Mutter, die dafür all seine Bedürfnisse bestritt, so dass ihm noch 15 Mark als Taschengeld verblieben.

Der junge Mann hatte auch keine "Braut" und verkehrte nicht in schlechter Gesellschaft. Nur für Circus und Theater hatte er eine Leidenschaft und dazu reicht ihm sein Taschengeld nicht. Als ihm der Vorsitzende das oben stehende Zitat Dr. Stephans vorhält, kann der Angeklagte nur weinend die Achseln zucken. Der Gerichtshof erkennt auf zwei Jahre und sechs Monate Gefängnis und fünfjährige Aberkennung der Beamten-Qualifikation.


Falko Hennig

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