Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Gerhard rennt

Gerhard S. leidet. In einigen Monaten wird er nach Berlin versetzt, aus beruflichen Gründen. Und dann hat er von der Firma ein Domizil im Osten bekommen, geräumig zwar, aber die Umgebung ... Er hat es sich aber schon mal angesehen. Und jetzt die Vorstellung, sich immer, wenn er auf dem Balkon steht, dieses Monstrum ansehen zu müssen, diese Pest der Republik. Schrecklich! Auf den alten Fotos sieht man doch, es geht auch anders. Überhaupt: Ostberlin. Mit seinen sozialistischen Unrechtsbauten. In Hannover-Herrenhausen dagegen ... Gerhard S. ist der Verzweiflung nahe.

Der Schönheit sollten keine Grenzen gesetzt werden. Helden der Ästhetik werden irgendwann auch belohnt. Beim Wort "Helden" durchfährt es ihn, und er legt den Rasierpinsel beiseite. Da war doch dieses Buch, das er letztens gelesen hat. Einfach grandios, wie ein einzelner Mann da alleine die Mauer eingerissen hat. Alles nur mit Hilfe seiner enormen Männlichkeit. Genau betrachtet, könnte er das doch auch, und sein Blick fällt in den großen Badezimmerspiegel. Und im übrigen muß man die Leute mit ihren eigenen Waffen schlagen. Da reift in ihm ein Entschluß: Die innere Stimme, es ist ein ganzer Chor, hebt an: Du mußt es tun. Geh hinaus und befreie uns von dem Übel!

Fünf Minuten später steht er vor dem Haus. Sein Blick fällt auf das verhaßte Ungetüm. Er macht seinen Mantel auf, die Luft vibriert ein wenig, und das Ding rutscht anstandslos in sich zusammen. Das sieht beinahe lustig aus. Na also, es klappt wirklich. Thomas Brussig hat die Wahrheit geschrieben. Gerhards Gedanken werden munter und fordern: Weiter so! Und wie er noch ganz leicht zögert, kommt Wind auf, die Mantelschöße fliegen hoch, und der Fernsehturm sackt in sich zusammen. Naja, gibt doch noch einen. Langsam beginnt er, an dem Spielchen Gefallen zu finden und geht los: Die Leipziger Straße ist ein Kinderspiel; einfach langlaufen, Mantel auf und zack! 100 m in 14,7 sec. Jetzt kommt er so richtig in Fahrt: Schutt und Staub werden seine Begleiter. Er muß laufen. So läuft und läuft er und kommt zwischen ganz vielen Plattenbauten zu stehen. Das ist auch nicht schön, weg damit! Gerhard stellt entsetzt fest, daß er nicht aufhören kann. Der innere Chor fordert immer mehr Schutt, immer mehr Platz für Schönheit. Also rennt er weiter, dann wieder zurück, ein Getriebener seiner Macht. Auf seinem Weg kommt nun das Brandenburger Tor in Sicht. Er zögert, soll er? Soll er wirklich die Grenze überschreiten? Doch schon reißt es ihn weiter Richtung Westen. Er schwitzt, die Endorphine twisten in seinem Körper. Der Große Stern fliegt vorüber. Mit Mühe kann er seinen Mantel am Ernst-Reuter-Platz zusammenhalten. Weiter und weiter rennt er, bis eine im Mondlicht silbrig glänzende Silhouette am Horizont erscheint. Jetzt spürt er es: Alles andere war nur Vorspiel. Mit schwindender Kraft öffnet er ein letztes Mal seinen Mantel und vollbringt das krönende Werk.

Am nächsten Morgen finden Passanten einen verwirrten, frierenden Mann in weitem Mantel vor den Trümmern des ICC. Willig läßt er sich wegführen. Seitdem trägt er ausschließlich weiße Jacken, die hinten geknöpft werden. Manchmal sagt er völlig zusammenhanglose Dinge wie: "Das mit dem Fernsehturm war wirklich ein Versehen." Die Pfleger aber nennen ihn nachsichtig "Unseren Uhltzscht II."
h.f.& r.l.

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