Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
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Auf der Suche nach einem freundlichen Gesicht

Manchmal ist es interessant, andere Leute über eigene Angelegenheiten auszufragen. Über Menschen, über die Arbeit oder über die Heimatstadt. Zwei Reporter der Prager Wochenzeitschrift "Reflex" schauten sich in Berlin um und schrieben für ihre Zeitung auf, was sie sahen.

Seit dem 1. Januar ist Berlin die Hauptstadt Deutschlands. Und einige meinen, es würde auch die neue Hauptstadt Europas, wenn sich Berlin als Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Macht des deutschen Staates etabliert. In den Köpfen vieler Europäer und auch der Deutschen selbst tauchen jedoch alte Erinnerungen auf - an Berlin als kraftstrotzende Verkörperung des preußischen Militarismus, unversöhnlicher hegelscher Dialektik, junkerlichen Hochmuts und deutschen Nationalismus, kurzum all dessen, was die Welt auf den Weg ins Verderben führte. Nur ist dies schon weite Vergangenheit. Berlin bemüht sich jetzt, Argwohn zu zerstreuen und der Welt ein freundliches Gesicht zuzuwenden.

Am Alexanderplatz steigen wir in den Bus der Linie 100 ein. Eine runde Zahl für eine symbolhafte Verbindung: Vom Zentrum Ostberlins fährt der Bus durch die berühmte Allee Unter den Linden bis zum Brandenburger Tor und von dort weiter nach Westen zum Kurfürstendamm, dem Boulevard der Lebemänner und Schwelger. Ostberlin sieht aus, als wenn ein SED-Kreisleiter nach ´89 westliche Zigarettenkisten ins Parteibüro stapelte. Westlicher Schein klebt unnatürlich auf grauen Funktionärsgesichtern. In den 100er Bus steigen Leute ein, andere Leute steigen aus, und plötzlich passiert etwas völlig unglaubliches, was in seiner einfachen Klarheit an Filmsymbolik erinnert: An der letzten Haltestelle vor dem Brandenburger Tor leert sich der Doppelstockbus völlig. Alleingelassen fahren wir zum Westberliner Tiergarten hinüber. Und hier, nur ein paar hundert Meter weiter, füllt sich der Bus wieder. Kommt Ihnen das wie ein billiges Bild vor? Wie dummes Gerede? Mag sein, aber es ist wirklich so.

Immer noch geteilte Stadt

Berlin ist auch neun Jahre nach seiner Vereinigung immer noch eine geteilte Stadt. In dieser Feststellung steckt kein bißchen Schadenfreude. Die Westberliner fahren nicht in den Osten und die Ostberliner nicht in den Westen. Warum? Beide haben ihre eigenen Kneipen, ihre eigenen Fußballvereine und ihre eigenen Zeitungen. Sogar eine eigene Mode haben sie - nein, sie lassen sich von den vor Wintermänteln überquellenden Geschäften nichts aufdrängen, wenn ihnen bis jetzt der Anorak reichte. Und wenn es irgendwo zu einer Vermischung von östlichem und westlichem Lebensstil kommt, wie im von der Boh¸me eingenommenen Viertel Prenzlauer Berg, ruft das oft Gehässigkeit hervor.

Aussagen darüber, daß sich die Menschen im Westen und Osten voneinander unterscheiden, und Feststellungen, daß die Bewältigung einer fünfzig Jahre langen Entwicklung in verschiedene Richtungen nicht einfach wird, hatten in den vergangenen Jahren noch einen verbotenen Beigeschmack. Sie waren beinahe etwas, das nach Rassismus roch. Heute spricht man über Probleme des Zusammenlebens zwar diplomatisch, aber skrupellos. Und bei weitem nicht nur am Stammtisch, sondern auch in den Amtsgebäuden der höchsten Stadtvertreter. "Es wird drei Generationen dauern, bis ein Ostberliner ohne weitere Zusätze von sich sagt, daß er Berliner ist", glaubt der stellvertretende Bürgermeister Kurt Schneider.

Toleranz und Boh¸me

Fast die gesamte ausländische Bevölkerung lebt im Westteil. Ein Ausdruck einer wirklichen multiethnischen Stadt. In einigen Teilen von Kreuzberg oder Schöneberg kommt man sich wie auf den Straßen Istanbuls vor. Eigentlich ist das ganz angenehm, es ist Erholung von der klinischen Sauberkeit der Luxushäuser im Zentrum, von den kalten Orgien aus Glas und Metall. Im Türkenimbiß an der Ecke läßt man die Beine baumeln, spielt mit aus dem Döner gefallenen Fleischstücken herum und hört Türken zu, wie sie sich in ihrer Muttersprache streiten.

Die dekadente Boh¸me zog in einige heruntergewohnte Ruinen im Osten ein. Eine davon ist das Künstlerhaus Tacheles. Dort kommen wir am späten Abend an. Aus den Fenstern der ersten Etage dröhnen dumpfe Rhythmen - der vertonte Tod. Die Leute gehen auf den Hof hinaus, verschwinden in schwarzen Höhlen kaputter Bauten, und wir können die Tür nicht finden, durch die sie verschwanden. Hoch oben, im vierten oder fünften Stock, leuchten eigentümliche Bilder, gemaltes Grauen: Hieronymus Bosch der Moderne. In den Ecken des Hofs stehen Dealer herum. Und die Kunstobjekte ... man weiß plötzlich nicht mehr, was davon Kunst ist und was herumliegender Müll. Zu diesem Ort gehört die Nacht, das Tageslicht nimmt ihm das Leben - genauso wie es anderen Leben gibt.

Berlin ist heute die größte Baustelle der Welt. Es ist darauf stolz, mehr als stolz. Es ist sein Image, etwas, womit Berlin sich vor der ganzen Welt brüstet. Ausländischen Besuchern schenkt die Stadt Aufkleber mit einer Skyline von Baukränen, es drängt sie "Berlin by night"-Karten zu kaufen - mit Baukränen. Teller, Tassen und T-Shirts mit Baukränen. Woher nimmt die Stadt diesen Hochmut nur?

Ausflug zur Baustelle

Es ist Samstagvormittag am Potsdamer Platz, dem Ort, wo sich der gesamte Bauwahn Berlins konzentriert. Menschenmassen drängen sich. Die Leute gehen spazieren, machen einen Ausflug - zwischen den Baugruben. Sie steigen durch den Schlamm, den Lastwagen bald aus der Stadt fahren. Für zwei Mark klettern sie auf die Aussichtsplattform der Infobox. Und bewundern - ja, was eigentlich? Die Schönheit der Häuser, die noch nicht stehen? Die Baugruben, die Eisenkonstruktionen und den Stahlbeton, die unaufhaltsam zum Himmel steigen? Nein - sie bewundern die Energie, die riesige Energie und den Arbeitseinsatz, zu dem Berlin und Deutschland fähig sind. Vielleicht fühlen sie Stolz oder auch Angst, ich weiß es nicht. Doch so ist der gigantische Ausbau Berlins ein städtebaulicher Ausdruck der Expansion des deutschen Volkes - einer materiellen und geistigen Expansion.

Hier wächst ein Stadtviertel heran, wofür sich nur eine passende Bezeichnung findet: Science-fiction. Hier stehen materialisierte Vorstellungen der Architekten und Stadtplaner, wie man im nächsten Jahrhundert lebt und baut, wie die Städte aussehen werden - aus Stahl, Glas und Beton, voll mit Wasserflächen und Lichtern, die in der Nacht so etwas wie einen künstlichen Tag schaffen. Künstliche Luft, künstliche Bäume und über allem ein Deckel - das ist die kosmische Welt der Zukunft, aufgebaut als Trotz gegen Natur und Gott.

Um die Ecke wächst das nächste Symbol des neuen Berlin heran. Der Reichstag, pardon - der Bundestag. Man muß Reichstag sagen, korrigieren Lehrerinnen ihre Schüler und Fremdenführer die Touristen. Oder wenigstens Sitz des Bundestags im Reichstagsgebäude, also Sitz eines Bundesparlaments in demjenigen Gebäude, wo früher eine Versammlung des Reiches tagte. Der Riesenbau, der koloniales Selbstbewußtsein ausstrahlte, bekam am Ende des letzten Jahrhunderts eine große Glaskuppel. Unter ihr sollen die Abgeordneten im Mai diesen Jahres einen neuen deutschen Präsidenten wählen.

Milliarden für eine Geste

Die Entscheidung für Berlin als Hauptstadt fiel im Juni 1991 im Bundestag. Was überraschend dabei war - nur mit einer knappen Stimmenmehrheit. Das Mißtrauen gegenüber Berlin als Hauptstadt dauert bis heute an. Menschen in den alten Bundesländern schauen mit Argwohn auf den Ostteil der Stadt, auf die "Ossis", die massenweise Neokommunisten wählen. Eher pragmatische Deutsche verstehen oft nicht, warum ein Staat Milliarden für eine Geste ausgibt - einer so irrationalen Geste wie die Hauptstadtverlegung.

Es sieht dabei so aus, als ob Berlin die Zeit überspringen wollte. In den frischgebauten Glaspalästen gähnen leere Etagen. Kinder spielen Fußball auf den Flächen, wo weitere Häuser gebaut werden sollten. Nur noch große Schilder träumen davon, wie schön der nächste Glasturm wird, der genau hier stehen soll. Viele sehen Berlin als überheizten Kessel - eingeheizt wurde zuviel, und nun ist es Zeit, Dampf abzulassen.

Die Erfahrung sagt, daß Städte, die nicht langsam über Jahrhunderte entstanden, sondern wie auf den Schwung eines Zauberstabs hin emporwuchsen, daß diese Produkte menschlicher Einbildung sich am Ende kaum zum Leben eignen. Schon nach ein paar Jahren tauchen Planungsfehler und Ungereimtheiten auf, die in ihrer Gesamtheit aus einer Stadt eine Un-Stadt machen. Beispiele dafür sind die Prager Südstadt oder Brasilia, das jetzt wie ein totes Denkmal in der brasilianischen Pampa steht, während in den siebziger Jahren noch darüber geredet wurde wie über ein achtes Weltwunder. Sich eine Stadt ausdenken zu wollen, das ist wie der Versuch, ein künstliches Lebewesen zu erfinden. Wird das neue Berlin vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen standhalten?
Dan Hrub´y

Die Reportage erschien unter dem Titel "Hled‡n’ vl’dné tv‡re" in "Reflex" Nr. 1/99. Übersetzung und Bearbeitung: Christian Domnitz.

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