Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Müssen die Ratten sterben?

Anmerkungen zu Kunst und Sozialarbeit

"Die Volksbühne ist doch keine Sozialstation" - dieser Ausruf in der aktuellen Ratten-Inszenierung richtet sich an zufällig anwesende Verantwortliche und Geldgeber. Seit 1995 finanziert die Volksbühne das "Obdachlosentheater Ratten 07" mit einer festen Stelle für Regie und einem Inszenierungsetat. Im Sommer 1999 läuft die Regiestelle aus, weil die Volksbühne weitere Haushaltseinsparungen vornehmen muß. Damit ist die Existenz des Ratten-Ensembles stark gefährdet. Wie andere Off-Theatergruppen auch, haben sich die Ratten beim Senat um Projektmittel beworben. Der Antrag wurde abgelehnt. In der Jury herrschte eine alt bekannte Zuordnungs-Unsicherheit. Zu "unprofessionell" und "zu sozial" lautete das Mehrheits-Urteil der fünfköpfigen Jury. Dabei waren die Ratten gerade eben mit ihrer letzten Inszenierung ("Brotladen", nach Brecht) zum bundesweiten Off-Theatertreffen "Impulse" eingeladen, dem größten Off-Theatertreffen im deutschsprachigen Raum. Unzählige Preise und Einladungen aus ganz Europa dokumentieren längst, daß die Ratten mehr sind als ein sozialarbeiterisches Straßenprojekt. Einzelne Mitarbeiter des Kultursenats schmückten sich in Seminaren schon mal mit dem Vorzeigeobjekt Ratten, obwohl noch nie eine Mark von dieser Behörde an diese geflossen ist.

Oft und viel wurde darüber spekuliert, ob das "Obdachlosentheater" eher Kunst oder eher Sozialarbeit ist. Regisseur (und Betreuer) Gunther Seidler, der seit vier Jahren mit der Gruppe arbeitet, hat diesen Konflikt konsequent aufzuheben versucht. Er hat die sozialarbeiterischen und therapeutischen Effekte der Arbeit nie geleugnet und trotzdem auf die Kunst gesetzt. "Indem sie (die Ratten) sich mit einem Kunsttext über Kunst äußern, kommen sie näher an sich heran." (Seidler) Theatralisch formuliert: Durch das verfremdende Element der Kunst erspielen sich die Ratten eine transzendierte Authentizität, von der jeder Schauspieler sonst träumt. Der grundlegende Unterschied ist ja, daß die Ratten in erster Linie gesellschaftliche Outlaws sind (mit gezeichneten Körpern, streunenden Hunde, unregelmäßigem und ungeschütztem Straßenleben, viel Alkohol) und ein normaler Schauspieler bei aller Abgedrehtheit zumindest ein regelmäßig aufgefülltes Bankkonto und einen respektablen gesellschaftlichen Status hat. Das heißt, wenn das spielerische Unternehmen gelingt, dann wird auf der Bühne eine zarte Eigenheit sichtbar, die nicht eine Rolle illustriert, sondern ein Leben zeigt, das am eigenen Leib am gesellschaftlichen Rand erfahren wurde. Diese Ästhetik ist keine individuelle, sondern eine höchst politische Ästhetik. Daß sich die Ratten mit ihren letzten Inszenierungen aus dem voyeuristisch-sozialromantischen Dilemma herausgespielt und eine eigene, neue Herausforderung an sich und ihr Publikum formuliert haben, kann man in "Maschinenstürmer" feststellen.

Die Verantwortung für die Zukunft der Ratten liegt beim Senat, der gefordert ist, eine politische und künstlerische Entscheidung zu treffen.
Stefan Strehler

Einen umfangreichen Text von Gunther Seidler über das Ratten-Projekt findet man in der zur aktuellen Inszenierung erschienenen Zeitung "Arbeit oder Tod".

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 02 - 1999