Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Revolution und Moral (mit wenig Zähnen)

Die neue Inszenierung der Ratten an der Volksbühne

Die Kinder spielen ausgelassen. Eines von ihnen hat einen Ghettoblaster umgeschnallt. Johnny Rotten quäkt "God save the Queen". Hinter mir knacken Bierbüchsen beim Öffnen. Dann wird es ernst: Stühle werden mit dem Rücken gegeneinander in einen Reihe gestellt. Die Reise nach Jerusalem mit "Anarchy in the U.K.". Plötzlich ist wieder alles vorbei, Licht aus: Auf einer Leinwand erscheint Stephan Heym, der Lord Byron, eine der Rollen, vorliest: Eine glühende Anklage. Die Bühne dreht sich mit uns vor ein weißes Halbrund, eine Wand. Eine Schüssel mit Wasser, ein geknicktes Ofenrohr, zwei Bänke davor. Von rechts kommen nun die Arbeitsmänner; die "Ratten". Sie halten sich an einer Stange fest oder beieinander. Dabei wiederholen sie immer wieder:: "Arbeit oder Tod!". Einige Male laufen sie an der Wand entlang, werden immer schneller, lauter, fordernder. Als sie fertig sind, nimmt sich jeder erstmal eine Flasche Bier. "Wer schlecht verdaut predigt Moral" .

Gegeben wird "Maschinenstürmer" von Ernst Toller 1922 geschrieben, in der Ratten-Interpretation. Der Plot ist einfach: Nottingham 1815, der Beginn der Industrialisierung. Die Arbeiter , Weber, sind durch Maschinen ersetzt worden. Sie streiken, da sie wollen, daß die Maschinen zerstört werden. Jimmy Cobbett (Abel vom Acker), einer der Arbeiter und Mitglied einer illegalen Arbeiterorganisation, versucht, seine Kollegen davon zu überzeugen, daß sie die Maschinen nutzen sollen. Er hat allerdings sowohl in seiner Familie - sein Bruder ist zum Geschäftsführer des Fabrikanten aufgestiegen - als auch in den eigenen Reihen Feinde. Ein anderer, der Arbeiterführer John Wible, fürchtet um seine Macht über die anderen. Dieser stachelt die anderen gegen Jimmy auf und bringt sie dazu, die Maschinen zu zerstören. Als Jimmy sie vor den Folgen warnen will, sieht die aufgebrachte Menge nur noch die Tatsache, daß er der Bruder des Geschäftsführers ist und erschlägt ihn.

Bei solch einem Stoff ist die Gefahr groß, in Sozialkitsch abzugleiten, das Elend noch elender darzustellen. So ist es aber nicht. Die Sprache ist voller Pathos, an manchen Stellen hymnisch. Schon allein deswegen gibt es eine gewisse Distanz. Der Zuschauer weiß immer, wer da vorn spielt. Die Darsteller haben wirklich kaum Zähne im Mund, viele Tätowierungen. Sie spielen und dann auch wieder nicht. Mit heiseren Stimmen schreien sie mehr, als daß sie sprechen. Und das wovon sie schreien, kennen sie gut. Elend, Hunger, daß jeder dem andern sein Deibel ist und das mit der Moral, die nach dem Fressen kommt. Immer ein Wechselspiel zwischen geistigem Masochismus und Voyeurismus der Zuschauer und Exibitionismus bei den Darstellern.

Plötzlich tritt Jimmy Cobbett aus der Rolle heraus: Bist du schon mal von deiner eigenen Familie rausgeschmissen worden? Er klettert über die Absperrung rennt ins Publikum und schreit: "Wo warst du bei der Räumung der Mainzer Straße?!" Peinliche Berührtheit; das ist zu nah und zu weit weg. Aufmischung ist Programm. das Wort Revolution ertönt oft. Unterschwellig aber auch Moral und hier, ganz altmodisch, der Aufruf zur Solidarität. Hier verklebt das aber nicht die Augen und Ohren. Man tut auch nichts Gutes, wenn man sich in diese Vorstellungen begibt. Man setzt sich aus und wird sich bewußt. Das gibt es zu selten. Und es ist nicht "schön". Das Projekt steht jedoch auf wackeligen Füßen (s. weiterer Beitrag). Und schon allein deswegen: Hingehen!
Ingrid Beerbaum

Maschinenstürmer, Regie Günther Seidler in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg - Platz; weitere Vorstellungen am 1. März um 19.30 Uhr und 9. und 10. März um 21 Uhr

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