Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
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Wie es zum Kapitalismus kam

"Rosenkriege" im Prater

Alles schien wirklich gut zu werden an der Volksbühne. Castorf machte seine erste Uraufführung eines zeitgenössischen Textes ("Terrordrom") und mit Stefan Puchers Bühnen-Chill-out "Flashback" probierte man auch auf der grossen Bühne aus, wie modernes Theater funktionieren könnte. Das angeblich poppige und innovative Theater, schickte sich an, seinen Ruf einzuholen. Die Kritik fand das gar nicht lustig, die Schauspieler im Haus auch nicht und bei so jenseitig gelagerten Inszenierungen wie "Flashback" kommen auch nicht so viele Zuschauer wie erhofft. Die Kids bleiben lieber im Club, und wenn sie ins Theater gehen, dann soll es Spektakel sein und keine meditative Selbstreflektion. Also fragte Frank Castorf "Wieviel Stefan Pucher verträgt ein Theater?" und setzte als Antwort Shakespeare auf den Spielplan. Shakespeare, das war doch dieser Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford, der vor ca. 500 Jahren einigen Erfolg als Bühnenautor hatte? Um zu beweisen, daß dieser Shakespeare der erste Soap-Opera-Schreiber war, sollte nicht irgendein Drama, sondern gleich der ganze Zyklus der sogenannten "Rosenkriege" aufgeführt werden. Der folgenreiche Beziehungskonflikt zwischen zwei Adelshäusern führte nicht nur zu viel Hauen und Stechen, sondern auch zur "gewalttätigen Zurechtmachung der Welt für die industrielle Revolution" (Volksbühnen-Dramaturgie). Um die Grundlegung der kapitalistischen Welt in jeder Hinsicht zu veranschaulichen, ließ Bert Naumann in den Prater das "New Globe"-Theater bauen, einen zweistöckigen Rundbau mit Logen. Das Spiel wird ebenerdig ausgetragen, was bedeutet: Die Zuschauer blicken herab (oder zu ihresgleichen gegenüber), die Darsteller spielen nach oben. Das ist als ungewohnte Erfahrung für beide Seiten höchst interessant. Um sich darüber hinaus an dem Schauspiel, erste Folge: Richard II. (Regie: Castorf), erfreuen oder gar bereichern zu können, ist die vorherige Lektüre einschlägiger Literatur (Das Kapital, Band 23 und 24, Shakespeare-Rezeptions-Geschichte, englische Nationalgeschichte, das Drama selbst) zu empfehlen. Man kann sich aber auch einfach so, gut gelaunt, dort hinbegeben, in der Loge mit seinen Nachbarn bei zugezogenem Vorhang alles mögliche treiben, die Schauspieler bei den Kämpfen anfeuern, lauthals pöbelige Kommentare abgeben, kurzum: Theater so gestalten, wie es die bürgerliche Etikette garantiert nicht vorschreibt.
Stefan Strehler

Richard II., am 26. und 27. Februar. Nächste Premiere: Heinrich IV., Teil 1 (Regie: Gabriele Gysi) am 11. März. Im Prater in der Kastanienallee, immer um 20 Uhr.

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