Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
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Wenn Bücher laufen könnten

Streik als Strategie gegen schlechte Architektur

In Paris wehren sich die Mitarbeiter der größten europäischen Bibliothek gegen die Zumutungen eines fehlgeplanten, verkorksten Gebäudes, mit dem sich Mitterand ein Denkmal setzen wollte.

Vier aufgeschlagene Bücher sind nichts besonderes, berühmt werden sie erst, wenn sie tausendfach vergrößert zum Haus werden, glasverkleidet, um die vier Ecken eines Innenhofes mit Tropenbäumen gebaut, am Ufer der Seine in Paris: die "Biblioth¸que Nationale de France".

Francois Mitterand, der ehemalige französische Staatspräsident, wollte sich mit dem Haus ein Denkmal setzen. Doch die, die es nutzen sollen, streiken - sie streiken gegen eine Architektur, die in bunten Gazetten der Bezirksverwaltung mit den Worten "Schönheit und Effizienz" belegt wird. "Kilometer läuft man sich in dem Haus ab, man muß wirklich gut auf den Beinen sein", beschwert sich eine Gewerkschaftsprecherin, die zusammen mit vielleicht 50 Kollegen streikt. Die Gruppe verteilt zwischen den Buchtürmen Zettel mit den Streikzielen, die Sprecherin beschwert sich über die Zumutungen, die die Architektur auferlegt, ohne auch nur Luft zu holen. "Es gibt noch so viel zu sagen", die Beschwerdeliste ist endlos. Die Wege durch das Haus scheinen das größte Problem zu sein. Ein automatisches Transportsystem, das für Effizienz im Buchtransport innerhalb einer der größten europäischen Bibliotheken sorgen sollte, läuft nicht wie es laufen sollte. Also laufen die Mitarbeiter. Die vier Büchertürme sind nur im Sockelgeschoß verbunden - runter, hoch mit jeweils nur einem oder zwei Aufzügen. Und nicht daß man, unten angekommen, die Querverbindung über den Hinterhof nehmen könnte - der ist unzugänglich; also läuft man im Rechteck bis das einzelne Buch da ist, wo es hingehört. Außerdem sind Archivare in fensterlosen Kellerkammern direkt neben tösenden Klimaanlagen untergebracht, weil sonst der Platz fehlt und das Gebäude erst einmal nicht erweitert werden kann.

Persönliche Vorlieben

Die streikenden Mitarbeiter fordern eine Verkürzung der Öffnungszeiten, um Zeit zu haben, in der Lösungen für die unzähligen Probleme gesucht werden können. Sie klagen laut die "Verantwortungslosigkeit der Direktion" und "das Fehlen von konkreten Lösungsansätzen durch die Bibliotheksleitung" an - wenn die Chefs nicht entscheiden, dann wenigstens die Mitarbeiter. Doch so einfach sind Verbesserungen gar nicht. "Die Frau und die Schwägerin des Architekten haben die Innenausstattung des Gebäudes gemacht", berichten die Streikenden, "da darf nichts angerührt werden" - keine Hinweisschilder zur besseren Orientierung, kein Verschieben von Tischen, um nicht in praller Sonne am Computer arbeiten zu müssen. Die Architektur feiert ihren Sieg gegenüber denen, für die sie entstanden ist. Doch die "für die" machen den Mund auf. Das Wort der Professionellen soll nicht das letzte Wort sein. Und sie stellen damit eine Frage: Wer hat denn überhaupt festgelegt, daß ein Architekt, ein Baumeister, über das Schicksal eines Gebäudes entscheidet?

"Es scheint so, als wäre es beim Bau der Bibliothek nur um architektonische Entscheidungen gegangen, nicht um die Belange der Bibliothekare", so die Gewerkschaftsprecherin. Und wer kennt die Belange besser, als die Betroffenen selbst? Im Nachhinein darf nichts abgeändert werden, im Voraus gibt es keine tatsächliche Planungsbeteiligung, in der ein Architekt vielleicht nicht mehr als ein bloßer technischer und künstlerischer Berater der Nutzer wäre. Und der erste Schritt zur Hinterfragung der gegebenen Rollenverteilung ist die Feststellung, daß da irgendetwas schiefgelaufen ist. Der Streik machts und ist ein konstruktiver Anfang in einer Frage, die nicht nur ein einziges Haus in Paris betrifft
Guido Rörick

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