Ausgabe 24 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Mein schönstes Weihnachten

Dieses Weihnachten sollte MEIN Weihnachten sein. Ich war darauf gekommen als ich einige Wochen zuvor, den Zettel an Konopke«s Imbiß entdeckt hatte: "Weihnachten für Alleinstehende in der Kulturbrauerei". Seit meine Eltern gestorben waren, hatte ich mich meist bei Freunden eingeladen, so eine Art Familiensimulation. Da saß man dann auch unter einem geschmückten Baum, verteilte auch Geschenke, aß auch gut und viel, nur die Gespräche waren etwas anders. Man erzählte sich mit einer größeren Selbstverständlichkeit von den Katastrophen, die einen gerade in der Vorweihnachtszeit wieder eingeholt hatten und man tat so, als wäre man sich sehr nahe. Zuhause erzählte man sich nicht von den Katastrophen, dafür war man sich tatsächlich nahe. Unangenehm war beides. Aber dieses Jahr sollte alles anders werden. Ich würde den sogenannten Heiligen Abend als Alleinstehender verbringen, wie es sich gehört, mit Fremden. Und ich freute mich darauf.

Dazwischen lag nur noch eine allerletzte Taxischicht. Um sechs Uhr morgens hatte es angefangen zu schneien. Der erste Fahrgast hatte statt dem Türgriff den vollen Aschenbecher erwischt, als er die Tür zuziehen wollte, und es roch deshalb etwas unangenehm, als ich den gut gelaunten Schwulen in der Schönhauser Allee aufgabelte. Er wollte nach Schöneberg, gute Sache, dachte ich, und hatte deshalb auch nichts daran auszusetzen, daß er Schätzchen zu mir sagte und sich sehr begeistert von mir zeigte. Bevor wir am Schönhauser Tor waren, hatte er mir bereits eine bezaubernde Liebeserklärung gemacht. Ich wußte nicht recht, ob ich mich darüber freuen sollte oder mir Sorgen machen, als ich merkte, daß mit dem Reifen hinten links etwas nicht stimmte. Auf Höhe der Volksbühne stoppte ich, um festzustellen, daß der Reifen platt war. Verdammte Scheiße. Schätzchen war auch aus dem Wagen gekrabbelt und rief: "Das ist doch nicht so schlimm, dann machen wir eben einen neuen Reifen drauf", und stolperte schon zum Kofferraum, um den Ersatzreifen rauszuholen. Bei mir war aber Schluß mit Schätzchen. Ich hielt einen vorbeifahrenden Kollegen an, setzte ihn dahinein, wünschte ihm fröhliche Weihnachten und wechselte den Reifen alleine. Es war Sonntagmorgen, es schneite, es war der 24. Dezember und ich hatte richtig schlechte Laune.

Ungefähr eine Stunde später wurde ich in Schöneberg zu einem Puff gerufen. Eine blondierte Frau mit amerikanischem Akzent, hohen Stiefeln und Pelzjacke bestand darauf, vorne zu sitzen, was ich nicht jedem gestatte, aber es war ja Weihnachten. Sie hatte noch nicht gesagt, wo sie hinwollte, da fing sie an zu heulen. "Zwei Tage hintereinander im Puff machen dich völlig verrückt. Und jetzt ist Weihnachten. Gestern hat sich mein Freund von mir getrennt, das Arschloch, ich kann nicht mehr. Ich finde Weihnachten furchtbar." Worte und Tränen sprudelten aus ihr heraus, wie aus einem lecken Weinfaß. Ich überlegte, ob ich sie nicht sofort wieder rausschmeißen sollte, da hörte sie ganz plötzlich auf und fing an zu singen, um kurz danach in Kreischen auszubrechen: "Ooh, Michael, das ist Michael, kannst du nicht lauter machen?" Und schon drehte sie selbst am Radio. Mir war es recht, schließlich hatte sie erstmal zu weinen aufgehört. Im Radio lief ein Motown-Soul-Special, wirklich sehr schön, mit vielen alten Jackson-Five-Songs. Ich fragte sie, wohin wir jetzt fahren. "Zu meinem Freund", sagte sie. "Aber ich denke, er hat sich gestern von dir getrennt", sagte ich, in Erwartung weiteren Unheils. "Wir fahren jetzt zu ihm. Er wohnt hier gleich um die Ecke". Sie ließ keine Widerrede zu, dann sang sie wieder, und sie konnte wirklich sehr schön singen. Auf einmal mochte ich sie. Vor der Haustür des Freundes verschwand sie, ohne mir etwas dazulassen. "Ich bin gleich wieder da." Es war vielleicht acht Uhr mittlerweile, es hatte wieder aufgehört zu schneien und ich hatte einfach keine andere Wahl, als ihr zu vertrauen. Ich machte das Radio noch lauter und wartete. Nach fünf Minuten kam sie hüpfend zurück. "Er kommt, er kommt, er kommt, er liebt mich wieder, was für ein wundervoller Tag. Wenn er da ist, darfst du ihm nicht böse sein, er ist noch etwas verschlafen, aber er ist ein guter Mensch." Dann erzählte sie, wie sie in der Bronx und in Amsterdam in Soul-Bands gesungen hat und daß Michael Jackson und Kinder das größte für sie sind. Ihr Freund war wirklich sehr verpennt. Er saß hinten, fixierte mich im Rückspiegel und gab knappe Anweisungen, wohin ich zu fahren hatte. Sie, ihr Name war Barbara, wie sie mir inzwischen erzählt hatte, sang laut die Jackson-Songs und jedesmal wenn ein Kind auf der Straße auftauchte, winkte sie mit beiden Armen und rief: "We love you" oder "Music is life". Der Freund verschwand immer für fünf Minuten in irgendwelchen Häusern. "Er macht Geschäfte", sagte Barbara und steckte mir 100 Mark zu, wenn ich jetzt die Uhr ausmachte, die gerade mal 40 anzeigte. Aber ich dürfte ihm nichts davon sagen. Als er später entdeckte, daß ich die Uhr schon ausgemacht hatte, log Barbara ihn an und sagte, daß sie mit mir 50 Mark vereinbart hätte. Daraufhin taute er sichtlich auf und bot mir einen Riesenkrümel von seinem besten Skunk an, den er gerade an seine Kunden verteilte. Ich freute mich, nahm dankend an, und so fuhren wir durch die Stadt, ein zufällig verbundenes und fröhliches Trio, singend und manchmal drückte Barbara auf die Hupe. "Wir sind gegen die Gegenleute", erklärte sie mir, "die Gegenleute sind die, die gegen alles sind."

Als ich abends nach Hause kam, legte ich mich hin, um etwas auszuruhn. Den Wecker stellte ich auf halb neun. Als ich aufwachte, wurde es draußen gerade hell. Im ersten Moment dachte ich, ich würde noch träumen, bis mir klar wurde, daß Heilig Abend bereits gelaufen war. Alles war vorbei, und ich hatte nichts davon mitbekommen. Ein tiefes und warmes Gefühl der Zufriedenheit breitete sich in mir aus.

Stefanó