Ausgabe 23 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Bruxismus

oder ist es die kalte Jahreszeit?

Haben Sie schon einmal das Wort "Bruxismus" gehört? Nein?
Keine Angst, es ist keine neue Weltanschauung. Eine neue Kunstrichtung? Eine neue Volkskrankheit? Nein, nicht ganz, obwohl es hinkommt.

Fangen wir zunächst damit an, was gegen den Bruxismus hilft. Gegen den Bruxismus hilft das Einsenken eines hufeisenförmigen Plastikgegenstandes ins natürliche Gebiß des Oberkiefers.

Ich höre beim Gehen, wie mir die Kiefer scheppern. Die plombierten Zähne krachen aufeinander, wie wenn zwei genagelte Chefschuhsohlen gegeneinander schlügen. Die Impulse setzen sich von den Füßen über die Schenkel und die Kniescheiben, über die gesamte Anatomie, wie ich sehe und spüre, bis in meine Beißerchen hinein fort. Fährt ein Lastwagen an mir vorüber, wellt sich kurz der Asphalt und die Beißerchen schlagen aufeinander.

Wir nähern uns nun mit Riesenschritten dem zu erörternden Phänomen des Bruxismus. Kennen Sie von sich den Alptraum, daß Sie sich alle Plomben auf einmal ausbeißen, daß diese nacheinander herausbrechen und Sie schließlich ungläubig und entsetzt auf eine Hand voll mit Plomben starren? Daß Sie schon mit wochenlang sich hinziehenden Zahnarztterminen rechnen, mit Schmerzen, mit Kosten verbunden? Daß Sie zunächst denken: Eine Weile beiße ich ohne Plomben weiter, einen Monat wenigstens schiebe ich diese Schaudern erregende Zahnbehandlung hinaus, oder zwei Monate, oder gar eine Saison? Sprechen Sie schon malträtiert, daß der Schmerz durch alle Löcher pfeift? Und wenn Sie dann aufwachen, haben Sie Glück gehabt. Gratulation.

Na gut, jetzt haben wir den Vorhof zum Bruxismus durchquert. Haben Sie sich in der Jugend auch geschworen, keiner von den hier ortsüblich Verbissenen zu werden? Ja?

Ist Ihnen das Wachsrelief bekannt, das den wahnsinnigen Hölderlin zeigt: mit verkniffenem Mund, zahnlos? Hölderlin nannte sich "Scardanelli" und hämmerte auf dem Klavier dahin (den Großteil der Saiten hatte er entzweigeschnitten), hospitalisiert in einem Turm mit Blick auf die Schwäbische Alb, und er wird bei Gelegenheit die Zähne zusammengebissen haben, was ich Ihnen versichern kann. Hat er sich dabei auch die Zähne ausgebissen? Oder ist meine Annahme richtig, daß er sich die Zähne aus Wut gegen die ihm verordnete sogenannte "Autenriethsche Maske" ausbiß? Diese Maske war eine "maulkorbartige Vorrichtung gegen das Schreien. Sie bestand aus Schuhsohlenleder und umfaßte unten mit einer Art von Boden das Kinn; dem Munde gegenüber befand sich auf der inneren Seite ein weich ausgepolsterter Wulst von feinem Leder. Je eine Öffnung war für Nase und beide Augen bestimmt. Mit zwei Riemen, die über und unter den Ohren von vorn nach hinten liefen, wurde die Maske am Hinterkopf befestigt, während ein dritter breiter Rahmen oben auf dem Scheitel zusammengeschnallt wurde. Dadurch war das zu weite Öffnen des Mundes verhindert; die Lippen drückte ein Lederwulst von vorn gegeneinander. Damit der Kranke die Maske nicht mit den Händen herunterreißen konnte, wurden diese auf dem Rücken zusammengebunden. In dieser Zwangslage ließ man die Patienten eine halbe bis eine Stunde lang, und später schrien sie nicht mehr, auch wenn man ihnen die Maske abgenommen hatte." Der Arzt gab Hölderlin "höchstens noch drei Jahre", und vielleicht gelang es dem Dichter, durch das angesprochene Zusammenbeißen der Zähne diese ihm zubemessene Frist um mehr als ein Zehnfaches zu verlängern. Vielleicht bedeutete jeder auf solche Weise stumpfgebissene und schließlich mit der Zunge herausgelockerte und in den Neckar hinuntergespuckte Zahn ein weiteres Jahr oder Halbjahr Lebenszeit für Hölderlin, wer kann das wissen.

Der Bruxismus steht vor uns. Er ist höllisch. In der Hölle wird bibelgemäß "Heulen und Zähneknirschen" sein. Der Bruxismus ist das "nächtliche Zähneknirschen", wie uns der Fremdwörter-Duden informiert; er kann sich steigern direkt zur "Bruxomanie", zu jenem "abnormen Knirschen, Pressen und Mahlen mit den Zähnen, und zwar außerhalb des Kauaktes". Wir haben es hierbei demnach mit einem psychosomatischen Phänomen zu tun, das in unseren Ländern weitverbreitet ist, angeblich achtzig Prozent der Erwachsenen betrifft.

In einem Becher schimmelt das von Kukidentstaub und eintrocknendem Speichel befallene Plastik vor sich hin. Mit den Reinigungstabs entferne ich die sich mit der Zunge pelzig anfühlenden Belege. Draußen herrscht wieder die kalte Jahreszeit. Ich verzweifle über die hoffnungslos zu Hunderten vor den Häusern geparkten Autos. Alle Fenster sind verfinstert; aus dem dritten Stock kommt ein wenig anheimelndes Schnarchen. Tauche ich in meine Wohnhöhle zurück, werde ich mir einen Wollschal umwerfen, der mir um den Hals die Illusion vermittelt, jemand wäre bei mir.

Peter Hodina

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 23 - 1998