Ausgabe 22 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die unerträgliche Leichtigkeit von Gewalt

Sascha Waltz & Guests: Na Zemlje

Keine Hermeneutik hier, das muß man sich entweder selbst ansehen, oder es ist schnell gesagt: Das Stück spielt tatsächlich nicht nur auf der Erde, sondern auch auf dem Lande, zeigt Kostüme und Bühne, russische BäuerInnen, Verführung und Gewalt, und vor allem Verfahren, in denen das Kollektiv jemanden zum Antipoden macht, zum Idioten, zum Nichtmenschen, zur Bestie, zum Auswurf und zum Kranken. Eine Art Stierkampf oder Bockskampf, in dem ein Mann oder männlicher Darsteller das Tier ist, mit mittelgroßen Baumstämmen gejagt und gefangen, dann eingegraben, behandelt von einem Arzt und zwei Schwestern; der Arzt hatte vorher schon die Rolle autoritären Gehabes. Die Inszenierung wird im Text noch "Tanzproduktion" genannt, sie ist ebensogut Theater, ist keine Illustration zu Foucault, aber es ist gut, ihn im Kopf zu haben. Viel mehr Gewalt als in früheren Stücken (in feinen Übergängen, wie etwa: chorisches Laufen und Hinwerfen, ziemlich gewaltig) kommt nach und nach aus Chorgesang und einer Choreographie, die den Chor zweiteilt und den Hälften unterschiedliche einheitliche Winkgesten mit Blättern zuteilt.

Genug Beschreibung. Was mich interessiert, weswegen ich mir das Stück vielleicht noch einmal ansehe, ist, in einem provisorischen Schema ausgedrückt: Es gibt reinen Tanz und Bewegungen, die Alltagsbewegungen imitieren als zwei Extreme, Tanz aus Tanz und Schauspiel. Waltz hat, soweit ich sehe, immer gearbeitet, indem sie beides aufeinander bezogen hat, den Tanz in Alltagsbewegungen, plastischer und durch Herausarbeitung bestimmter Stränge, Klärung vielleicht, rhythmische Wiederholung und Choreographierung, auch umgekehrt. Der reine Tanz wird zu einem Teil theatralischer Darstellung. Das hat funktioniert, für mich jedenfalls, in ihren urbanen Stücken, auch in früheren. Es funktioniert auch jetzt, aber hier sind es die gewaltigen chorischen Sequenzen, die so flüssiges Metall bekommen. Wo eigentlich gewalttätige Dinge leicht und tänzerisch bleiben, bricht die Darstellung. Der Gejagte bekommt einen Stern aus Stämmen um den Hals und wird darin getragen, dennoch bleibt das Stück leicht. Auch wenn fünf um einen Tisch stehen, und der Tisch nicht mit echtem Zerren umkämpft wird, sondern am Kopfende gerüttelt, und die anderen rütteln sich selbst.

Ein untaugliches provisorisches Schema; vielleicht geht es auch um wirkliches Tun und Darstellen von Tun, um Stilisierung. Die verweben sich mit der Bewegungsform, die man bei Waltz immer sieht. Alle Bewegungen sind vollkommen sicher, nie eine ballettöse Spreizung, sie sind nicht federnd leicht, aber sie sind leicht und natürlich und unangestrengt und deshalb kräftig und sicher und gut auf der Erde, dabei verwoben mit Realität und wirklicher Physis und Gewalt. Denn natürlich ist das viel besser auch zur Darstellung von Gewalt geeignet, gleich ob es kunstvoll und unter Anstrengung zustande kommt.

martin zweistetter

Sascha Waltz & Guests (Company Sasha Waltz & Guests und Tänzer der Klasse für Expressive Bewegung, Moskau), Na Zemlje - Auf der Erde/ dem Lande, vom 17. bis 21. November, Sophiensaele, Sophienstraße 18, Berlin Mitte, fon 28599360.

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  Ausgabe 22 - 1998