Gruftis mit Glatzen

Rechtsextremisten versuchen, die Grufti-Szene zu unterwandern

"Skinheadkonzert von der Polizei wegen Zeigen des Hitlergrußes oder Naziparolen aufgelöst " - solche Meldungen verwundern inzwischen kaum noch jemanden. Doch die Musikvorlieben der Rechten werden zu Unrecht noch immer zwischen Skingedröhn und Volksmusik eingeordnet. Dies machte der Spex-Autor und Mitarbeiter des Düsseldorfer Instituts für Sprache und Sozialforschung (DISS), Alfred Schobert, auf zwei Veranstaltungen in Berlin deutlich, die die Gruppen "Venceremos" und "Gruftis gegen Rechts" organisierten. Das leicht ironische Bekenntnis des früheren Neonazis und heutigen Mitglieds der Freiheitlichen Volkspartei Österreich (FPÖ) Jürgen Hatzenbichler "Pardon, ich höre Popmusik" löste im rechtsextremen Strategieorgan "Nation & Europa" vor Jahren noch Befremden aus. Mehr Erfolg hatte Hatzenbichlers Kollege Roland Bubik in der neurechten Wochenzeitung "Junge Freiheit" (jF), die sich die Abgrenzung sowohl zu den Traditionsrechten, als auch zu den militanten Jungnazis auf die Fahnen geschrieben hat. Auf ihrer Suche nach der idealen Musik für den postmodernen Rechten wurde die Redaktion im Darkwave-Spektrum fündig. Über einen Nachwuchswettbewerb wurde für das jF-Musikressort eine auf die Gruftiszene spezialisierte Jungautorin gewonnen. Doch die "Operation Darkwave" (Schobert) währte nicht lange. Die Szeneschreiberin verließ die Redaktion bald und wendet sich mittlerweile öffentlich gegen rechte Infiltrationsversuche ihrer Musikszene.

Die sind kein Zufall. Ein verklärtes Mittelalterbild und seine Neigung zu Mystizismus und Mythologie können schnell in Aufklärungsfeindlichkeit, ja Irrationalismus umschlagen. Auf der symbolischen Ebene bietet eine Enttabuisierung, teilweise gar Rehabilitierung von Naziemblemen eine offene Flanke nach Rechts, so Darkwave-Experte Schobert. Zudem suchen Musiker der Szene-Kultbands Death In June, Forthcoming Fire, Allerseelen, Sol Invectus und Blood Axis nicht nur in der Musik den Schulterschluß mit Rechtsaußen. So schwärmte Death In June-Frontmann Douglas Pearce von den faschistischen kroatischen HOS-Milizen, dier er während des Bürgerkrieges besuchte. Josef Klumb von Forthcoming Fire grüßt den antisemitischen Verschwörungstheoretiker Jan van Helsing auf dem Plattencover.

Sooft Schobert auch betont, daß er keinesfalls die gesamte Gruftiszene in die rechte Ecke stellen will - es wird ihm doch immer wieder vorgeworfen. Außerdem nehmen selbst eher linke Grufti-Fanzines wie das "Maul" antifaschistische KritikerInnen, weil (igitt) politisch, nicht ins Blatt. Die Macher des Berliner "Darkszine" gar kehrten mit ihrer Unterstellung, AntifaschistInnen wollen alle Gruftis vergasen, eher ihre eigenen Vernichtungsphantasien an die Oberfläche.

Lange standen Darkwave-Bands wie "Das Ich" und "Deine Lakaien" mit ihren antifaschistischen Statements in der Szene auf verlorenem Posten. Doch jetzt könte sich das ändern. Unter dem Label "Gruftis gegen Rechts" wollen DJs und Konzertveranstalter aus Bremen, Berlin, Mannheim und Heidelberg die braunen Geister in ihren eigenen Reihen bannen. In einer informativen Broschüre rufen sie DJs, Fanzines und Labels zu einer klaren Positionierung und dem Bruch mit einer sich unpolitisch gebenden Toleranz gegenüber rechten Tendenzen in der eigenen Szene auf.

Peter Nowak

Kontaktadresse: Gruftis gegen Rechts, Music For a New Society, c/o St.Pauli Str. 10/12, 28230 Bremen
e mail: feb@uni bremen.de
Die Broschüre steht auch unter:
t online.de/home.F.Bernhard

Die Gruftis gegen Rechts sammeln Spenden für ihre Arbeit: Spendenkonto:
Sparkasse Bremen BLZ: 29050101, Kontonr.: 46224445

Literaturempfehlungen:
Schobert Alfred: Kreuz, Totenkopf und Gruft. Darkwave und Neue Rechte in: Jäger, Margret/Wichert, Frank (Hg.): Rassismus und Biopolitik.
Werkstattberichte. DISS Forschungsbericht 1996, Duisburg 1996, S.67-74
ders.: Geheimnis und Gemeinschaft. Die Dark Wave Szene als Operationsgebiet neurechter Kulturstrategie in: Cleve, Gabriele u.a. (Hg.): Wissenschaft
Macht Politik Intervention in: Aktuelle gesellschaftliche Diskurse.
Siegfried Jäger zum 60. Geburtstag. Münster 1997, S. 384-395

Wenn man anfängt, Punk zu definieren, ist es kein Punk mehr

Eine Austellung in der Kulturbrauerei

versuchte ein Forum zur Selbstdarstellung von Jugendsubkulturen zu schaffen. Dazu ein Interview mit einem der Austellungsmacher.

Die Ausstellung "Crossover im Labyrinth der Jugendkulturen", die Anfang Oktober in der Kulturbrauerei stattfand, lieferte einen sympathisch unbefangenen Einblick in verschiedene Subkulturen dieser Stadt. Vorurteile und Klischeebilder, dargestellt als Schriftzüge auf Schubladen, wurden vielen Selbstdarstellungen von Personen, die sich in den Szenezusammenhängen bewegen, entgegengestellt. Wie in einem Irrgarten konnten sich die Besucher mit den verschiedenen Lebensstilen konfrontieren lassen. Das Ganze wurde so spannend, da bewußt auf einen sozialpädagogisch-belehrenden, oder wissenschaftlich-analytischen Ansatz verzichtet wurde. Ein Großteil der Texte entstand in intensiven Gesprächen mit den Jugendlichen. Unter anderem dadurch fühlte man sich weniger wie in einer Austellung, als mehr an einem Ort der Kommunikation .

Träger der Ausstellung war Pro Kultur, eine gemeinnützige GmbH, die hauptsächlich Jugendarbeit an Schulen macht.

Aufgebaut und konzipiert wurde die Ausstellung von den Theaterwissenschaftlerinnen Christine Boyde und Ulrike Richter sowie dem Modedesigner Carsten Nickol.

Mit Ulrike Richter sprachen Sabine Schuster und Michael Philips.

Wie bist du zu diesem Arbeitsschwerpunkt Jugendsubkulturen gekommen ? Als Theaterwissenschaftlerin habe ich mich mit Volksfesten befaßt. Dabei haben mich Elemente interresiert, die in die Entstehung des weltlichen Theaters eingeflossen sind. Meine Diplomarbeit war über den Wasunger Karneval in Thüringen. Das war in der DDR der einzige Ort, an dem Karneval gefeiert wurde. Der Karneval und die damit zusammenhängenden Feste waren auch Kultur von unten, ein Gegenpol zur damaligen Gesellschaft. Das wurde einfach gemacht, nicht nur als Tradition "gepflegt", so wie man einen Kranken pflegt. Bei dieser Arbeit habe ich viel mit Jugendlichen geredet.

Wie entstand die Idee zur Ausstellung? Die Idee kam sehr spontan, als wir letztes Jahr ein Konzert mit Schülerbands in der Kulturbrauerei organisiert haben im Rahmen von Kinder- und Jugendaktionstagen unter dem Motto "Dschungel der Großstadt". Dabei habe ich gesehen, daß das Publikum unglaublich bunt war. Und ich fand es beschämend, so wenig über die Leute zu wissen. So ist die Idee entstanden nachzuhacken.

Gab es eine Konzeption für diese Arbeit, oder ist das weiter spontan entstanden? Wir haben uns dann erstmal theoretisch rangelesen…

In Literatur aus den Subkulturen, wie Fanzines? Nein, das waren mehr soziologische Studien, und danach fingen die endlosen Diskussionen an. Irgendwann ist mir dann der Kragen geplatzt, und ich hab alle Bücher in die Ecke geknallt. Diese Ansätze waren einfach zu weit ab vom Leben, entweder dieser wissenschaftliche Ansatz oder noch schlimmer, das sozialpädagogisch verständnisheischende "ja irgendwelche Probleme müssen diese Jugendlichen doch haben, wenn sie sich in solchen Subkulturen aufhalten". Und dann haben wir uns ins Leben gestürzt: Sind auf Parties und Konzerte gegangen und haben mit den Leuten gesprochen. Am Anfang war ich noch sehr befangen, die Leute anzusprechen, bis ich gemerkt habe, daß sie sehr mitteilsam sind. Sie wollten ihre Befindlichkeit nach außen tragen. Meine Arbeit in einem Schülerklub war da von Vorteil, und wir haben auch Befragungen an Schulen durchgeführt.

Gab es bei dieser Ausstellung auch Schwerpunktfragestellungen, so eine Art roten Faden? Wir hatten verschiedene Ansatzpunkte. Es war am wichtigsten, Vorurteile abzubauen, Brücken zu schlagen und Meinungen richtigzustellen. Die Zuschauer sollten angeregt werden, sich auf die Dinge einzulassen. Wir wollten optische Bilder schaffen, wie etwa die Schubladen, in der die Klischeemeinungen z.B "Die lutschen Leichenteile" über die Grufties, eingeschrieben waren.

Waren die Meinungen wirklich authentisch? Manche klangen doch ziemlich absurd. Ja, wir haben Außenstehende und die Leute in den Szenen gefragt, welchen Vorurteilen sie am meisten begegnen. Man neigt wohl auch immer dazu, etwas einsortieren zu wollen, das ist wohl der deutsche Ordnungssinn. Das Wichtigste sind die Biographien der Leute, die individuelle Lebensgeschichte, das schlägt jedem Schubladendenken ins Gesicht.

Ihr habt nur ein bestimmtes Spektrum der Jugendszenen ausgewählt. Ist rechte Jugendszene bewußt ausgespart worden? Nein, wir sind einfach an die Leute nicht rangekommen. Aber auf den Fragebögen die wir ausgewertet haben, waren auch viele rechte Ansichten. Das müßte vertieft werden, etwa über Skins etwas zu machen, und dabei die landläufige Meinung aufzubrechen, Skinheadkultur sei automatisch rechts. Das müßte alles noch mehr in die Tiefe gehen. Wir stehen dazu, daß das alles nur Schlaglichter sind.

Wie war die Resonanz auf die Ausstellung ? Aus den Jugendszenen sehr positiv, auch weil wir das Ganze immer mit Parties kombiniert haben. Von offizieller Seite, wir haben Leute vom Senat und aus den Bezirksämtern und die Presse eingeladen, war das Interesse sehr mager.

Und wie haben die Leute aus den Jugendszenen sich dargestellt gefühlt? Die haben sich schon wiedererkannt. Eine Idee war auch, daß sich die Leute zu den anderen Szenen in Bezug setzen. Zum Teil klappte das, teilweise gingen die Leute auch nur in "ihre Ecke". Es war interessant zu sehen, wie wenig die Szenen voneinander wissen. Ein HipHopper beispielsweise hat noch nie von "Reclaim the Streets" gehört, obwohl die HipHop Bewegung sehr sozialkritisch ist und es dabei auch um Zurückeroberung öffentlichen Raums geht.

Was hat sich für dich durch diese ganzen Begegnungen bewegt? Es waren einfach interresannte Erfahrungen, z.B. mit den Punks auf der Straße beim Schnorren zu sitzen. Das war lustig, als die die Leute angeschnorrt haben mit dem Blick auf mich: "für die arme Frau hier, damit sie die Nacht was zum Pennen hat." Spannend war auch zu sehen, wie verschieden die Szenen sich artikulieren. Gerade in der HipHop Szene konnte ich viele Theaterelemente entdecken, aber nicht in der klassisch aufführenden Form.

Die Themen Geld und Arbeit werden kaum thematisiert. Warum? Vermutlich, weil sich bei den meisten das eigene Lebensgefühl und die Arbeit nicht decken, sie arbeiten, um zu leben oder entziehen sich dem ganz. Alle sagten eigentlich, daß es für sie eine Lebensphilosophie für eine lange Perspektive ist. Generell wird auch das Konsumdenken abgelehnt. Es wäre natürlich interessant,die Leute in zehn Jahren nochmal zu interviewen.

In welchem politischen Kontext seht ihr eure Ausstellung? Die Diskussion um öffentlichen Raum und Verdrängung wurde ja schon angedeutet. Sicher, wenn man an "Reclaim the Streets" denkt, das war für mich eine der faszinierendsten Entdeckungen überhaupt. Sich ein Stück Raum, das einem weggenommen wurde, für eine gewisse Zeit zurückzunehmen, um zu leben, eine Party zu feiern, dadurch wird das schon politisch. Die linksradikale Szene haben wir bewußt textlastig dargestellt, weil es dieser Diskussionskultur entspricht. Es ging uns vielfach um die Fragen, wie eine Szene miteinander kommuniziert, mit welchen Philosophien sie sich befaßt.

Wie ist nun die weitere Perspektive eurer Arbeit ? Die Austellung lief ja leider nur sehr kurz. Sicher, wenn die Ausstellung länger gelaufen wäre, wäre noch vieles dazugekommen. Wenn die Austellung wachsen würde, wäre es toll, einfach das zu dokumentieren, was die Leute dazu zu sagen haben. So sollten solche Austellungen meiner Ansicht nach überhaupt konzipiert werden. Bei uns hat sich das angedeutet, etwa nach einem langen Gespräch mit einem Punk, der dann irgendwann einmal sagte, wenn man anfängt, Punk zu definieren, ist es kein Punk mehr. Das haben wir gleich zu den ausgestellten Texten dazugehängt. Wir wollen das Ganze als Wanderausstellung weiterführen und etwa an Schulen oder in alternativen Projekten zeigen. Also, abgeschlossen ist die ganze Sache für mich auf jeden Fall noch lange nicht.

Special: aaa

Am Rande der Stadt findet eine Automobilausstellung statt, doch in unserem Verkehrsspecial werden Autos völlig übergangen. Von Fußgängern, Radfahrern und Autobahngegnern

Runter vom Rad

Nicht mehr jeder Radweg muß benutzt werden.

Seit dem 1. Oktober haben Radfahrer mehr Rechte. Mit Inkrafttreten der zweiten Stufe der sogenannten Fahrradnovelle können nun Fahrradstraßen eingerichtet werden und die Gegenrichtung von Einbahnstraßen für Radfahrer freigegeben werden. Diese Neuerungen werden in Berlin von der Senatsverkehrsverwaltung nur sehr zögerlich umgesetzt. Mit der weitreichendsten Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) sind aber alle Verkehrsteilnehmer ab sofort konfrontiert: Die generelle Benutzungspflicht für Radwege entfällt.

Wenn ein Radweg nicht die neu festgesetzten Mindeststandards erfüllt, muß er von Radfahrern nicht mehr benutzt werden. Ein benutzungspflichtiger Radweg muß mindestens 1,50 Meter breit sein, eine ebene Oberfläche und eine stetige Linienführung haben. Außerdem muß im Kreuzungsbereich die Sichtbeziehung zwischen Auto- und Radfahrern gewährleistet sein. Bei den üblichen, auf dem Bürgersteig angelegten Radwegen passieren gerade an Kreuzungen und Einmündungen die meisten Unfälle, weil die Radfahrer durch die Wegeführung nicht im Blickfeld der abbiegenden oder kreuzenden Autofahrer sind.

Mit Ausnahme einiger Radspuren auf den Fahrbahnen entspricht heute kaum einer der Berliner Radwege den neuen gesetzlichen Anforderungen. Die meisten sind nur 1 bis 1,20 Meter breit, führen nah an parkenden Autos vorbei, deren unachtsam geöffneten Türen eine häufige Unfallursache sind, oder schlängeln sich in engen Kurven um Hindernisse wie Bushaltestellen oder Sicherungskästen herum, was ein zügiges Befahren unmöglich macht. Somit müßte also ein Großteil der Radwege in Berlin aus dem Benutzungszwang herausfallen. Den Radfahrern wäre es freigestellt, entweder den Radweg weiterhin zu befahren oder auf die Fahrbahn auszuweichen.

Die Senatsverkehrsverwaltung entläßt jedoch nur etwas mehr als die Hälfte des rund 850 Kilometer umfassenden Radwegenetzes aus der Benutzungspflicht. Damit Radfahrer auch die nicht standardgemäßen Radwege befahren müssen, werden diese Wege nun vielerorts mit Radweg-Verkehrszeichen beschildert. Das zwingt die Radfahrer auch weiterhin auf die Bürgersteigradwege. "Das Schild gilt", meint Benno Koch, Berliner Pressesprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Doch schmale, holprige und gefährliche Radwege einfach durch das Aufstellen von Schildern an der StVO vorbei für benutzungspflichtig zu erklären, dürfte in Einzelfällen rechtlich nicht haltbar sein.

Das betrifft zum Beispiel den Bürgersteigradweg am oberen Teil der Schönhauser Allee. Auf Weisung der Senatsverkehrsverwaltung wurde dieser Radweg vom Tiefbauamt Prenzlauer Berg mit Schildern versehen und muß deshalb weiterhin benutzt werden. Weil man hier zwangsläufig und ständig mit den zahlreichen Fußgängern ins Gehege kommt, wurde dieser noch relativ neue Radweg von den Radfahrern allerdings nie richtig angenommen.

Auch die Prenzlauer Allee bekam einen neuen Schilderwald. Hier wurden die Schilder meist mit einem eigenen Pfosten auf der rechten Seite des Radweges, also auf der "Grenze" zwischen Fuß- und Radweg aufgestellt. Ebensogut hätte man sie links des Radweges, an den Rand der "straßenbegleitenden Grünanlagen" stellen können - dort wären sie weit weniger unfallträchtig.

Insgesamt sind allein in Prenzlauer Berg über 60 neue Schilder angebracht worden, davon 23 mit eigenem Pfosten. Nach Auskunft des dortigen Tiefbauamtes kostet ein solches Schild inklusive Pfosten 120 Mark. Dazu kommen noch die Kosten der Arbeitsstunden, die für die Aufstellung nötig waren.

Dieses Geld hätte nach Ansicht des ADFC lieber in die Verbesserung der Radwege selbst gesteckt werden sollen. Die Radfahrerorganisation fordert schon seit langem eine vollständige Aufhebung der Benutzungspflicht für Radwege. Gute Radwege werden auch freiwillig und gerne benutzt. Jens Sethmann

Dieser Mann geht über Autos

Die Autobiographie des Autogehers Michael Hartmann

Eines schönen Tages im März 1988 begann Michael Hartmann sich gegen die Autoflut in den Straßen seiner Heimatstadt München zur Wehr zu setzen. Der damals 22jährige geriet darüber in Wut, daß Autos auf den Gehwegen geparkt werden und somit auch noch den knappen Raum in Beschlag nehmen, der den Fußgängern vorbehalten sein sollte, - und stieg einfach über die Autos hinweg. Stoßstange, Motorhaube, Dach, Kofferraumdeckel - Sprung. Die Reaktionen waren unterschiedlich: von Beifall und Belustigung über Kopfschütteln und Unverständnis bis hin zu offener Feindseligkeit - letzteres meist von Seiten der Fahrzeugbesitzer. Doch solange Blech und Lack unbeschädigt bleiben, ist das Gehen über falschparkende Autos völlig legal.

Protest mit den Füßen

Diese Aktionsform genügte Michael Hartmann bald nicht mehr. Er trug den Konflikt zwischen Auto und Mensch auch auf die Fahrbahn, indem er begann, auf der Straße "Brotzeit zu machen". Wenn Fußgänger um parkende Fahrzeuge herumlaufen müssen, können Autos auch um frühstückende Fußgänger herumfahren. Später spazierte Hartmann nur noch auf der Fahrbahn statt auf dem Bürgersteig, ging konsequent bei roten Ampeln, überquerte Kreuzungen diagonal, hob mit ein paar Leuten auf dem Gehweg parkende Autos zurück auf die Fahrbahn, organisierte Straßenbegehungen, gab Carwalking-Lehrgänge und Streetwalking-Seminare.

Es ist erstaunlich, daß der bald stadtbekannte Verkehrsquerulant nur zweimal angefahren und dabei nur leicht verletzt wurde. Weniger erstaunlich ist, daß er auch Probleme mit Polizei und Justiz bekam. Nicht immer vermeidbare Dellen in Autodächern zogen Sachbeschädigungsklagen nach sich, das Gehen auf der Straße wurde als "gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr" gewertet und brachte dem "Autoschreck" einige Tage Untersuchungshaft und eine kurzzeitige Einweisung in die geschlossene Psychiatrie. Perfiderweise versuchte man aufgrund eines früheren Unfalls, bei dem er von einem Auto angefahren wurde und schwere Kopfverletzungen erlitt, ihm die geistige Zurechnungsfähigkeit abzusprechen. Die Gerichtsverfahren hatten teilweise ein großes Medienecho. Das spektakulärste ging bis vor den Bundesgerichtshof, wo der Autogeher letztinstanzlich freigesprochen wurde.

Die Welt wieder begehbar machen

Michael Hartmann sieht in seinen Aktionen nichts Geringeres als den Anstoß zu einer "sanften Revolution gegen die Autos". Die Kompromißlosigkeit und Unverdrossenheit, mit der er sein ganzes Leben diesem Ziel widmet, lassen ihn als einen Don Quijote auf verlorenem Posten erscheinen. Die Frische und Naivität seines Kampfes gegen die Zumutungen der Massenmotorisierung lassen sogar über die erheblichen schriftstellerischen Schwächen hinwegsehen, die die Autobiographie des Autogehers aufzeigt. Keine Frage: Michael Hartmann wird weitermachen. Das mag zwar manchmal schrullig wirken, aber er hat ja recht. Jens Sethmann

Michael Hartmann: Der AutoGeher - AutoBiographie eines AutoGegners, Unrast-Verlag, Münster 1998, 188 Seiten, 24,80 DM

Mama macht dir Liebes ganz viel Pudding und auch Bier

Die Beisetzung von Thomas "Schnulli" Koppelberg in Essen-Steele

Der Sarg ist viel zu kurz und viel zu hoch. - Särge sind immer viel zu kurz und viel zu hoch. Und immer furchtbar häßlich. Immer dieses Klobige. Wohnzimmerschrankwand, eichenfurniert. - Daneben eine Gitarre aus Blumen, ein Rednerpult. Daß Koppelberg nicht bestechlich gewesen sei, sagt der Mann in der schwarzen Lederjacke, weder durch Geld noch durch Ruhm. Der klagende Singsang enttarnt ihn als Pastor. Die Einsegnungshalle ist viel zu klein.

Sechs hagere, steinalte Männer stehen am Grab. Schwarze Zylinder über Leichenbittermienen. Sie seilen den Sarg in die Grube ab. Nehmen die Röhren vom Kopf, halten sie waagrecht vor den Bauch und verneigen sich simultan. Die weißen Handschuhe werden abgestreift, sie wandern von Hand zu Hand bis zum Dienstältesten, der wirft sie hinunter.

Plötzlich steht er da, am Rand seines eigenen Grabes, und äfft seine Sargträger nach. Zieht die Mundwinkel nach unten bis zum Schlüsselbein: der Gram. Wirft das Kinn nach oben: die Würde. Zuckt, während er imaginäre Handschuhe abstreift, mit den Nasenflügeln: die Pietät.

So spielte er den vorgeblichen Amtsarzt in der Irrenhauskomödie "Zwei Drittel spielt verrückt". Und den Ausrufer, den Erzähler zwischen den Szenen. Den, der am Schluß des Stückes sang: "Wenn ich hier jetzt raus komm, wo gerat ich rein? Wir gehn alle zusammen raus, und doch geht jeder für sich allein."

Einzeln treten wir ans Grab. Der Sargdeckel ist kaum noch zu sehen. Hier, diese Rose ist von Hans, und die da soll ich dir von Uwe bringen. Nee, Schnulli, äff' mich jetzt bitte nicht nach, sonst muß ich noch lachen. Ich mach doch schon so undramatisch wie's geht. Hier, das da ist von mir. Nein, ich fall schon nicht rein.

Auf dem Kiesweg Frauen, die die Zähne zusammenbeißen. Harte Szenemänner mit roten, verheulten Gesichtern. Wie viele Jahre hat er eigentlich Villons "Testament" gespielt? Im Kreuzberger Hoftheater, später im Acud. Auf Tour in ganz Deutschland. Wie viele Revolutionen hat er eigentlich damit ausgelöst? Was, keine? Und Kopulationen? Na also. Weinflaschen kreisen. Erinnert ihr euch an den Schluß? "Ein edler Falke biß ins Gras. Doch wißt ihr, wie er sich empfahl? Vom Roten trank er noch ein Glas, eh er verließ dies Jammertal."

Freitagnachmittag auf dem Friedhof in Essen-Steele. Anfang der Woche, am 4. Oktober, ist Thomas Koppelberg an Krebs gestorben, 41 Jahre alt. Das ist "kein Alter", sagen die einen. Die andern sagen, daß er für zwei gelebt hat, wenn nicht für drei. Jetzt ist er begraben. Und die, die übrig bleiben, können sich nur noch an die Erinnerung und an seine Platten halten: "Ich reim euch was ins krumme Kreuz, ich sing euch was ins Hemd, bis ihr Rotz und Wasser heult und endlich euren Wert erkennt." Bov Bjerg

Lieferbare CDs von Koppelberg: "Wolffen" (1988), "Baptiste, Laznaire, Philippe" (1995). Zunächst unter dem Titel "Koppelberg" veröffentlicht, wurde diese CD vor kurzem neu aufgelegt. Darauf sind nicht nur die Gassenhauer "Uhlala-König" und "Wein und Weiber" zu hören, sondern auch weniger bekannte, sehr zärtliche und melancholische Songs. Die CDs (DM 25,- pro Stück, plus Porto) sind kaum im Laden zu haben, aber man kann sie bestellen bei: Conni Sandmann, Wittener Str. 80, 44789 Bochum, Tel. 0234-300886. Der Erlös geht an einen Fonds für erkrankte KünstlerInnen, für den auch gespendet werden kann. Konto: 8576847000 bei der Dresdner Bank Essen, BLZ 36080080.

Musik für die Massen

Wo haben Mädchen und Frauen im Popland ihren Platz? Als Groupies? Als Freundinnnen des Bassisten der gerade auftretenden Band (ausschließlich wieder mal männliche Mitmenschen an den Instrumenten)? Hinterm Tresen des Rockschuppens? Wenn man eines dieser traurigen Indie-Konzerte mit der geheimen Band X auf dem obskuren Label Y besucht, findet man sich genau in einem aus diesem Weltbild entworfenen Wohlfühlzirkus für Männer wieder.

Natürlich gibt es auch Mädchenbands, die schaut man sich dann als korrekter Indie-Head auch an, und wenn die Sängerin gut aussieht - um so besser. Aber was bitte ist aus all den tollen Ideen der New Wave bis hin zur androgynisierten Love-Parade-Generation geworden? Ein männlicher Poptheorie-Backlash der allerübelsten Sorte, eine von Bierprolls beherrschte Love-Parade, Bücher von Nick Hornby bis Benjamin v. Stuckrad-Barre darüber, daß Frauen eben tatsächlich nichts von Musik verstehen und eine dermaßen männlich dominierte Pop-Infrastruktur von Labels bis Fanzines, daß es einem schlecht werden könnte.

Irgendwann gab es in Amerika mal rrrriot-grrrlism - Bikini Kill, Hole, Babes in Toyland - ,Männerschwänze schienen in Gefahr, Obacht - jetzt kommen die angry women, lick my pussy, Eddie Van Halen: Schlachtrufe, einen Spiegel-Kulturteil lang.

Heute findet rriot-grrrl im Internet statt, Mädchenpages mit Links zu ihren Lieblingsbands und sowas. Gelegentlich kommt auch mal eine All-Girl-Band wie Sleater-Kinney nach Deutschland, das war´s dann aber auch schon. Indieland für Mädchen abgebrannt.

Daß man sich nicht auf dem kulturindustriell verbratenen Girlie-Schema ausruhen kann, Heike Makatsch als german-Pop-Girl auch nicht langt, machte unlängst die Diskussion um den Reader "Lips, Tits, Hits, Power?", erschienen im Folio-Verlag, vollgepackt mit einschlägigen Texten an der Schnittstelle Popkultur und Feminismus, deutlich. Kann es noch darum gehen, bloß zu zeigen, daß Frauen die Gitarre richtig rum halten können? Gudrun Gut, die Pop Tarts, Barbara Morgenstern, Laub, Cobra Killer - bekommen solche Projekte in einer Stadt wie Berlin die Aufmerksamkeit, die sie verdienen würden? In den Stadtmagazinen hängen bloß ignorante Männer mit dicken Plattensammlungen rum und in der Zeitung für Popkultur "Spex" gibt es nur noch ein paar ganz wenige Quotenfrauen.

Also heißt die Losung: selber machen, weiter machen, mehr machen. Endlich. Susanne Messmer und Christiane Rösinger von der Berliner Band Britta haben sie somit angegangen, die Labelgründung als Plattform für Musik, die nicht ohne Frauen passiert. Flittchen Records heißt der Laden und geht gleich mit vollem Programm an den Start.

Stolz & Vorurteil - A Compilation of Female Gesang, Gitarren und Elektronik heißt ein Rundumschlag mit jeder Menge verschiedenen Acts zwischen LoFi-Pop und Nett-Trashigem. Alles frisch aus dem Übungsraum und dem Wohnzimmer.

Rest of (rare & unreleased zwischen 1988-1998)... und Best of... Lassie Singers, die beiden Sampler als Vermächtnis der legendären, superweisen, genialen Band, die leider nicht mehr ist. Hier fing nicht unbedingt alles an, kam aber sicherlich so einiges nie zuvor gewesenes Großartiges zusammen.

Toller Start für ein Label. Speziell die Lassie-Sängers-Best Of sollte man haben, wenn man nicht eh schon stolzer Vier-Lassie-Singers-Platten-Besitzer und ewiger Fan ist. Dieser braucht natürlich auch den Rest. Andreas Hartmann

Alle Platten bei Flittchen Records/EFA