Ausgabe 18 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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"Berlin Helmholtzplatz"

Über die Hilflosigkeit der Politik

Berlin-Helmholtzplatz, wir schreiben den 29. August 1998. Die Szene: ein Straßenfest. Das Publikum ist aus dem Kiez, so an die 300 Gäste. Verwaltungsmenschen aus dem Bezirk sind anzutreffen, der Bezirksbürgermeister hat sich die Ehre gegeben. Veranstalter ist Förderband. In vier Wochen finden die Wahlen zum Bundestag statt und der Prenzlauer Berg ist umstritten. Die Matadore sind also die Kandidaten der großen Parteien. Die Zeit, gegen 15 Uhr, das Fest ist seit Mittag im Gange. Scheinwerfer auf die Bühne: Es versammeln sich die Damen und Herren Petra Pau (PDS), Marianne Birthler (B´90/Grüne), Günther Nooke (CDU), Wolfgang Thierse (SPD), unter einem Zeltdach abgeschirmt, das Volk steht fröstelnd im Regen. Vorstellungsrunde, wohnen schon seit zig Jahren hier, jaja, die Basisverbundenheit ist wichtig. Dann zur Sache: Thema Arbeitslosigkeit. Nooke: "Wir dürfen nicht reglementieren, die Wirtschaft schafft Arbeitsplätze, nicht die Politik." Thierse: "Wir müssen Steuergerechtigkeit schaffen, dann ist auch mehr Geld in der Kasse, dann hat man wieder Gestaltungsspielraum". Birthler und Pau (jede auf ihre Weise): Hauptsache, die Regierung wird abgelöst. Auf dem Platz wird es unruhiger. Rufe aus dem Publikum: "Das seh´n wir doch, wie die Wirtschaft Arbeitsplätze ab-schafft." "Red´ doch nicht so kariert, mensch, was willste denn tun, mit Deinem Gestaltunsspielraum?" Wortmeldungen aus dem Publikum u.a.: Ihr seid doch Teil des Kapitalismus, die Handlanger eurer Wirtschaft, die uns die Jobs weggenommen hat. Den Leuten hier brennt der Arsch. "Ihr wollt doch eigentlich gar nichts mehr. Und die Leute traun euch nicht, daß ihr irgendwas verändern wollt mit eurer Politik. Denen ist es doch fast egal, welche Partei sie wählen." Zweite Runde auf dem Podium: "Reglementierung", "Gestaltungsspielraum", "Abwählen". Marianne Birthler: "Die Menschen lassen uns Politiker allein. Mischt Euch doch mehr ein." Gelächter, die Unruhe steigt. "Dann sucht euch doch eine andere Bevölkerung", höhnt es aus dem Publikum. Aggressive Töne mischen sich darunter. Der Nooke redet von "Werten", von "Familie". Langeweile im Publikum. Ein Mensch in Baukluft erklärt, er hätte sechs Jobs haben können, alle schwarz. Thierse: Mehr Kontrolle auf den Baustellen. Gemurmel auf dem Platz, jaja das kennt man, wo erwischt wird, ist nicht genug geschmiert worden. Ein angetrunkener, graubärtiger Mann um die fünfzig steigt auf die Bühne und brüllt: "Die Milliarden ficken sich selbst... ihr macht uns hier Theater... wir lassen uns nicht vertreiben..." die Rede ist nicht zusammenhängend, das Publikum hat dennoch verstanden, die versammelte Politik blickt hilfesuchend zu den Moderatoren. Tut doch mal was, das Volk geht uns auf den Geist, der Mann ist betrunken.

Mit Feuereifer werden brennende Fragen auf dem Podium diskutiert, die bösen und die guten Taten der Regierung, die guten und die schlechten Vorschläge von SPD-PDS-B´90, die Machbarkeit, die Sachzwänge und blablabla, fast niemand hört hin, das Publikum plaudert untereinander und trinkt. Der Nooke meldet sich nochmal zu Wort: "Ich sage hier das, das ich für richtig halte, dann könnt ihr ja entscheiden, ob ihr mir Eure Stimme gebt. Ich bin dafür, daß wir die Rahmenbedingungen schaffen. Die Stadterneuerung und Modernisierung soll weitergehen. "Warum glauben die Leute nur, daß sie vertrieben werden sollen, wenn sie sowas hören? An diesemTag war Nookes Arbeit umsonst, das kann er vergessen. Nein, die Stimmung kippt nicht. Die Bühne wird nicht gestürmt, die abseits wartenden Polizisten haben einen friedlichen Samstagnachmittag.

Die Besucher des Festes kamen freilich überwiegend aus dem Kiez und der ist ein "soziales Problemgebiet", wo sich die "einkommensschwache Bevölkerung" konzentriert. Ob die versammelte Politik ihre eigene Sprach- und Hilflosigkeit erkannt hat, müssen wir hier offenlassen. Für fast alle Besucher war sie offenkundig. Allenfalls war zu ahnen, daß ein Problembewußtsein besteht. Die Hilflosigkeit war erschreckend, ebenso der Widerwille, den Ernst der Probleme aus den aggressiven Formulierungen herauszuhören. Idealerweise soll die Politik das gesamte Volk repräsentieren, das Gemeinwesen in der Zukunft gestalten. Die simple Tatsache, daß Menschen ausgeschlossen sind, bedeutet, daß ein System nicht funktioniert, daß es sich vom Zustand des Optimums entfernt.

Und vielleicht sind die Betrunkenen auf dem Helmholtzplatz die Repräsentanten von verborgenen Abstiegsängsten.

Es dauerte mehr als ein Jahrhundert politischer Auseinandersetzung, bis ein soziales Sicherungssystem durchgesetzt wurde, welches einen Absturz von Arbeitslosen, Behinderten, alten und kranken Menschen in die totale Armut verhindert werden konnte. Es wurde durchgesetzt. Das Ergebnis war ein finanzieller Ausgleich, immerhin eine bescheidene Entschädigung für diejenigen, die vom Produktionsprozeß ausgeschlossen waren. Auf diese Weise wurden auch Abstiegsängste gemildert. Die verdummte Mittelklasse kaschiert ihren Unwillen zum sozialen Ausgleich mit einer Menge an Argumenten, mit sogenannten Sachzwängen usw.

Die Bewohner des Helmholtzplatz verlangten von den gewählten Funktionären der Politik nichts weiter, als daß sie ihren Job erledigen: Die Herstellung des Gemeinwohls. Und ihren Anteil daran. Den Glauben in die Herstellung des Gemeinwohls haben sie noch nicht ganz verloren, noch nicht alle. Ihre Abkehr von der Gesellschaft vollzieht sich in kleinen Schritten, aber sie vollzieht sich.

Toni Sander

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  Ausgabe 18 - 1998